“Hier! Demonstrieren Sie mir Ihre praktischen Fähigkeiten.“
Tissons Blick wanderte zwischen dem Stab und Aupy hin und her.
„Was ist? Worauf warten Sie?“, fragte Aupy.
Tisson gestand, er wisse nicht, was es mit dem Stab auf sich habe.
„Aha! Hier zögern Sie.“ Aupy nahm ihm den Stab wieder weg. „Aber mit einem Messer glauben, sie hantieren zu können, nur weil es sich um einen Gebrauchsgegenstand handelt. Damit, glauben Sie, können Sie an wehrlosen Patienten herumschnippeln.“
Woher wusste Aupy von der Ausschabung? Hatte sich die Kunde von der Diphtherie im ganzen Viertel ausgebreitet?
„Sie sind hier nicht auf einem Schiff, wo sie nach Belieben an irgendwelchen Wilden Ihre Kunstfertigkeit üben können“, fuhr Aupy fort. „Sie befinden sich in Bordeaux. Sie sind ein Mitglied der Medizinischen Fakultät. Sie haben einen Ruf zu vertreten.“
Tisson wollte sein Handeln rechtfertigen, als ihn Arlettes Kichern aus dem Konzept brachte. Sie zog einen Schmollmund und bewegte den Zeigefinger hin und her. Tisson zwang sich geradeaus zu blicken.
„Dr. Laçao nahm die Ausschabungen vor. Ich habe nur zugeschaut“, sagte er schließlich.
„Es gab keine ... Komplikationen?“
„Nein, wie kommen Sie darauf? Es handelte sich um einen einfachen Fall von Diphtherie.“
Dann müsse er seine Quellen überprüfen, murmelte Aupy. „Wie dem auch sei“, sprach er mit lauter Stimme weiter. „Wenn Ihnen praktische Anschauung fehlt, dann kommen Sie zu mir. Habe ich mich deutlich ausgedrückt?“
Tisson nickte. Aus den Augenwinkeln nahm er war, wie Arlette Grimassen schnitt.
Was ihm zum Thema Hypnose einfalle, wollte Aupy wissen.
Er habe sich damit bisher noch nicht befasst, antwortete Tisson und konzentrierte sich auf seine Schuhspitzen.
Dann werde er ihm jetzt praktischen Anschauungsunterricht geben und die Patientin hypnotisieren, erwiderte Aupy.
Er trat vor Arlette, zog den Stab wieder hervor und hielt ihn vor ihr Gesicht. Nach wenigen Sekunden fielen ihre Augen zu. Er wies Tisson an, Arlettes Arm anzuheben.
Der legte Zeigefinger und Ringfinger unter das linke Handgelenk des Mädchens, hob seine Hand und damit ihren Arm und ließ ihn dann los. Der Arm klatschte auf den Rock. Er wiederholte das Gleiche mit dem rechten Arm. Wieder sackte die Hand in den Schoß zurück. Tisson blickte den Professor fragend an.
„Die Muskeln der Patientin sind völlig erschlafft“, offerierte er schließlich als Diagnose.
Aupy nickte kurz und fordert Tisson auf, den Ulnarnerv zu stimulieren. Für einen Augenblick verweilte Tissons Blick auf Arlettes rundem Gesicht, ihrem kleinen Mund, die geschlossenen Augen. Sie wirkte heiter, als ob ein Lächeln kurz unter der Oberfläche darauf lauere, befreit zu werden, aber sie schien ihn nicht wahrzunehmen. Aupy räusperte sich. Tisson drückte den Nerv über Arlettes Handwurzel. Sofort krallte sich ihre Hand zusammen.
„Gesteigerte Erregbarkeit der Nerven“, sagte Tisson.
„Weiter?“ Aupy zwirbelte an seinem Schnurrbart.
Was wollte Aupy noch hören? Tisson ging in Gedanken die Krankenakten durch, rief die letzten Vorlesungen vor seinem geistigen Auge auf. Er ließ seinen Blick schweifen, verharrte auf einer Zeichnung einer sich aufbäumenden Patientin an der gegenüber liegenden Wand und antwortete: „Wie bei den Hysterischen. Eine gesteigerte Erregbarkeit der Nerven wird insbesondere während eines hysterischen Anfalls beobachtet.“
„Genau richtig, genau richtig“, sagte Aupy.
Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, begann er die Bordüre des Teppichs entlang zu marschieren, während er die Bedeutung der Hypnose erklärte. Die Hypnose sei nichts anderes als eine reduzierte Neurose, eine Art Hysterie in Kleinformat. Mittels der Hypnose könnten die Phänomene der Hysterie künstlich hervorgerufen werden.
„Verstehen Sie“, schloss er seinen Vortrag, „die Hypnose ist geradezu dafür geschaffen, die Hysterie zu untersuchen.“
Er schritt auf Arlette zu, legte die Daumen auf ihre Augäpfel und zog die Lider auseinander. Wieder forderte er Tisson auf, Arlettes Arm anzuheben.
Der tat wie ihm geheißen, doch dieses Mal verharrte der Arm in der Luft.
„Katalepsie. Der zweite der drei Zustände der Hypnose“, erläuterte Aupy und rieb Arlette über den Scheitel.
Sie öffnete die Augen.
„Sie stehen in einem Schlangennest“, sagte er zu ihr.
Augenblicklich riss sie die Beine hoch, schüttelte sie, versuchte die Schnürsenkel mit der Hand wegzubürsten.
„Die Schlangen sind wieder verschwunden“, behauptete Aupy.
Arlette stellte die Füße wieder ab, lächelte.
Aupy drehte sich zu Tisson um. „Beeindruckend, nicht? Der somnambule Zustand, vergleichbar dem hysterischen Schlaf“, erläuterte Aupy. „Die Patientin erinnert sich hinterher an nichts.“
Er bedeutete Tisson, ihm ins Arbeitszimmer und zum Bücherregal zu folgen. Tisson seufzte. Mehr Bücher. Mehr verlorene Zeit.
Aupy wirbelte herum. „Was ist? Interessiert Sie die Hysterie plötzlich nicht mehr?“
„Doch, doch“, beeilte sich Tisson zu sagen, “aber ich bin noch nicht einmal mit den Gesichtsfeldvermessungen fertig.“
Wie das sein könne, wollte Aupy wissen. Es seien doch nur eine Handvoll Neuzugänge gewesen.
„Acht, um genau zu sein“, antwortete Tisson. „Aber nur bei einer ist es mir bisher gelungen, die Messung auch direkt nach einem Anfall durchzuführen.“
Nach einem Zögern – er wollte nicht den Eindruck erwecken, er beschwere sich wieder über sein Zimmer - fügte er hinzu, bis er hinzugerufen werde oder die Patientinnen aus ihrem Erschöpfungsschlaf nach einem Anfall wieder aufwachten, vergingen Stunden, ja Tage. Er bezweifle, dass die Daten dann noch aussagekräftig seien.
Aupy zog vier Wälzer aus dem Regal und drückte sie Tisson in die Hand.
„Das ist die Lösung Ihres Problems“, erklärte er. „Statt auf einen Anfall zu warten, versetzen Sie die Patientinnen in Hypnose.“
Tisson stieß geräuschvoll die Luft aus. Diesen Hinweis hätte er früher gebrauchen können.
„Vielleicht sollten Sie häufiger einmal mit Ihrem Professor Rücksprache halten und dessen Ratschlägen folgen“, fuhr Aupy fort. „Auch wenn der weniger schillernd daher kommt wie Ihr portugiesischer Freund.“
Aupy machte auf den Absätzen kehrt. Tisson starrte auf seinen schmalen Rücken, die linke Hand, die sich zur Faust ballte und wieder streckte, die kleinen, präzisen Schritte, mit denen er ins Nebenzimmer zu Arlette zurück ging.
„Und gewöhnen Sie sich dieses Schnauben ab“, rief ihm Aupy zu, ohne sich umzudrehen. „Sonst hetze ich Ihnen den Chirurgen auf den Hals, damit er Ihnen die Nase richtet.“
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