„Solange er pfeift, brauchst du dir keine Sorgen zu machen.“
Laçao schabte weiter den Rachen der Mutter aus. Sie blieb bemerkenswert ruhig. Immer wieder warf sie einen Blick auf das Kind, das sich furchtsam an seinen Vater klammerte.
Mutterliebe, dachte Tisson. Sie würde sich wahrscheinlich bei lebendigem Leib das Herz herausreißen lassen und nicht schreien, nur um ihr Kind nicht zu ängstigen.
„Willst du auch mal?“, fragte Laçao und wischte den Spatel an einem Lappen ab.
Tisson beugte sich über die Frau. Ihre Haare klebten wie ein zerrissenes Spinnennetz an ihrem Gesicht. Ein faulig-süßer Geruch schlug ihm entgegen. „Ich sehe nichts. Wie kannst du so arbeiten?“
Laçao ging zur Kommode und zündete die Petroleumlampe an. Dann leuchtete er damit so gut es ging den Rachen der Frau aus. „Siehst du das linke Gaumensegel?“ sagte er. „Die Bläschen? Den weißlichen Belag? Das muss alles weg.“ Er trat zur Seite und löschte die Lampe. Tisson warf ihm einen fragenden Blick zu.
„Du wirst nicht immer jemanden dabei haben, der dir ein Licht hält.“
Tisson seufzte. Manchmal nahm es Laçao zu streng mit seiner Ausbildung.
„Willst du mit dem Jungen weitermachen?“, fragte Laçao, als Tisson fertig war.
Tisson schüttelte den Kopf. Keine Kinder. Jedenfalls nicht zum Üben.
Laçao rollte das Betttuch zusammen und stopfte es dem Kind unter den Nacken, um besseren Zugang zum Rachenraum zu erhalten. Die Mutter bat er, den Jungen an den Händen festzuhalten. Dann begann er mit der Ausschabung. Der Vater trat an die Kopfseite des Bettes und begann mit leiser Stimme auf das Kind einzureden. Dabei blockierte er das wenige Licht. Tisson nahm ihn am Arm, führte ihn in die Küche, deutete auf die kalten Kohlen, auf den leeren Eimer. „Wasser, warmes Wasser“, sagte er immer wieder, bis der Mann schließlich begriff, und mit dem Eimer die Treppe hinunterlief.
Als er in die Stube zurückkehrte, wiegte die Mutter das Kind bereits wieder in den Armen. Tisson begann, die Instrumente zu reinigen.
Laçao erklärte dem Mann etwas auf Portugiesisch. Dann drehte er sich zu Tisson um. „Wie wär’s mit Mittagessen?“
„Wie kannst du nur so schnell abschalten?“, fragte Tisson. Er hatte zwar als Schiffarztgehilfe auf der Dahomé so manches erlebt, aber das war etwas anderes gewesen. Die Besatzung war bis auf die französischen Offiziere schwarz gewesen. Schwarz mit Narben im Gesicht wie Schriftzeichen. Schriftzeichen, die er nicht entziffern konnten. Mit einer Sprache, die wie das Hacken einer Machete klang. Die Männer waren ihm immer fremd geblieben. Dann die Sonne, die einem den Verstand ausdörrte, der Gestank, die Ratten, der Skorbut, der Durchfall. Auf der Dahomé war der Tod ein ständiger Begleiter gewesen.
Das hier aber war Bordeaux. Die Menschen lebten in getünchten Häusern. Die Familienmitglieder trugen Kleider, schliefen in Betten. Sie tranken Wein oder Wasser, auf jeden Fall aus Gläsern. Man konnte Menschen auf Photographien bannen, es gab Gaslampen, Telegraphen. Durch Frankreich rasten täglich Dampflokomotiven. Was hatte der Tod hier noch zu suchen?
Laçao winkte ihn zum Fenster.
„Schau hinaus“, sagte Laçao. „Der Regen hat aufgehört, die Spatzen zirpen, Mutter und Kind werden durchkommen. Wieso soll ich mich nicht freuen?“
Tisson schüttelte den Kopf. Er fand, sein Freund mache es sich zu einfach. Zu oft schon hatten diesen Streit gehabt. „Außerdem“, fügte Laçao hinzu, als sie auf die Straße traten, „ist die neue Bedienung im Le Canard wirklich niedlich.“
Tisson stieß die Luft aus. „Was ist mit der Tänzerin?“
„Zu mager geworden“, antwortete Laçao und zupfte sich vor einer Fensterscheibe die Krawatte zurecht.
„Wann lässt du diese Spielchen?“, gab Tisson zurück. Er dachte an seine Schwester, die ihrer Liebe in die Normandie gefolgt war und sich jetzt in einer Dorfschule von einem Tag zum anderen rettete, weil der Kerl eine reiche Witwe geheiratet hatte.
Laçao strich den Oberlippenbart glatt. „Das sind keine Spielchen. Das nennt man Leben, mein guter Freund. Und du solltest auch damit beginnen.“
„Der Mensch hat auch einen Kopf. Was ist damit?“
„Du machst dir etwas vor“, antwortete Laçao. „Du setzt dir ein hehres Ziel: die Wissenschaft, die Wahrheit“, er beschrieb mit der Hand einen Bogen in der Luft, „und übersiehst die wesentlichen Dinge dabei, die viel kleiner, viel unscheinbarer sind.“
„Das glaube ich nicht“, unterbrach ihn Tisson. „Es ist doch eher so, dass der Mensch meist nicht so hoch springt, wie das von ihm gesteckte Ziel. Und wenn er es zu niedrig setzt, muss er am Ende darunter hindurch kriechen.“
„Und wenn er vor lauter Zielstrebigkeit vergisst, sich um sein leibliches Wohl zu kümmern, springt er bald gar nicht mehr“, sagte Laçao und ging auf das Lokal am Ende der Straße zu.
Sie wollten gerade eintreten, als jemand Tissons Namen rief. Er blickte sich um, konnte niemanden sehen, bis er die Männer auf dem Dachfirst gegenüber entdeckte. Einer winkte ihm zu.
„Herr Doktor, hier oben“, rief er. Es war Henri.
„Geh schon mal vor, Joaquin“, sagte Tisson zu seinem Freund und lief über die Straße. Dabei rempelte er einen Mann mit einem Blumenstrauß an. Tisson entschuldigte sich, fragte sich, woher ihm der Kerl bekannt vorkam, und blickte die Fassade hinauf.
Henri steckte seinen Lötkolben zurück in das Kohlebecken und schlitterte ein Stück das Dach hinunter, wobei er sich am Kamin festhielt.
„Herr Doktor, hier oben“, rief er erneut und winkte. „Henri!“ Tisson lief sofort auf ihn zu. „Wie geht es Ihnen? Nehmen Sie Ihre Medizin?“
Henris legte schnell den Finger vor den Mund, blickte sich verschreckt nach dem anderen Mann um.
„Rosalie, die Kleine meines Bruders ist krank“, rief Henri vom Dach herunter. „Können Sie vielleicht nach ihr schauen, Herr Doktor? Es ist ganz in der Nähe. Wenn Sie Zeit haben?“
Tisson nickte Henri zu. Ein Krankenbesuch bei seiner Nichte. Dem konnte auch Aupy nichts entgegensetzen. Wenn er jemals davon erfahren sollte. Er erkundigte sich nach der Adresse.
„Es macht Ihnen doch nichts aus, oder?“
„Ich habe es doch versprochen: Ich helfe Ihnen. Aber nennen Sie mich nicht immer Herr Doktor, das bin ich noch nicht.“
„In Ordnung, Herr Doktor – Monsieur.“ Henri schaute, als habe er ein Geschenk bekommen, mit dem er nicht mehr gerechnet habe. Dann kletterte er wieder das Dach hinauf.
Eine Hand legte sich auf Tissons Schulter.
„Was ist denn nun?“, fragte Laçao.
„Ich muss noch einen Patienten besuchen“, antworte Tisson und schwang sich auf sein Véloziped.
Er bog in die Straße mit dem Hutmacher, dem Fleischer ein, schob sein Véloziped in den Hof, nahm die Stiege in den zweiten Stock und klopfte an die Tür. Eine hagere Frau öffnete einen Spaltbreit.
„Madame Debra?“
„Wer sind Sie? Was wollen Sie?“
„Ihr Mann, Henri Debra, schickt mich.“
„Das ist nicht mein Mann. So einen hätte ich nie geheiratet. Was ist mit ihm? Ist er wieder ausgebüxt? Wer sind Sie überhaupt?“
Tisson erklärte den Grund seines Besuches.
„Sie sind Arzt. Sagen Sie das doch gleich. Kommen Sie herein.“
Nicht Arzt, wollte er sie korrigieren, doch die Frau schlurfte bereits weiter, stieß die Tür zur Stube auf, bedeutete Tisson einzutreten.
„Warten Sie einen Moment, ich hole Rosalie.“ Sie schloss, das Fenster, das sie weit aufgerissen hatte, und verschwand im Nebenzimmer.
Tisson behielt seinen Mantel an und blickte sich um. Die Fensterscheiben waren trüb, der Vorhang davor auf einer Seite eingerissen. Zwischen Kommode und Tür war ein Bett gezwängt, auf dem Tisch lagen Seidenbänder, Metalldrähte und zu Blütenblättern geformtes Seidenpapier, auf dem Boden ein Haufen schmutziger Wäsche. Es stank nach Abtritt, obwohl die Frau gerade gelüftet hatte. Tisson schob vorsichtig mit dem Fuß den Wäschehaufen zur Seite.
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