Kalter Wind sauste um ihre Köpfe. Mit geröteten Wangen zogen sie den Schlitten nach jeder Abwärtsfahrt wieder den Berg hinauf. Die Herzen jubelten, die Kinder lachten, der Schnee wurde aufgewirbelt. Ehe sie es bemerkten, legte die Dunkelheit ihren schwarzen Mantel sanft über die weiße Pracht.
Nasse Wollhandschuhe, kalte Füße, leere Mägen, so zogen sie etwas müde, aber herrlich ausgetobt, zufrieden ihren Schlitten an vereister Schnur nach Hause. Bei Muttern war es wohlig warm, und sie hängten die nassen Kleidungsstücke neben den großen Kachelofen zum Trocknen auf. Aus der Ofenröhre kamen Düfte zischender Bratäpfel. Sie labten sich an dieser heißen süßen Köstlichkeit und gingen dann selig trunken in ihre Betten. Nachts träumte das kleine Mädchen, dass der Schnee noch lange liegen bleiben möge.
Wir alle sind nur
Durchreisende
auf dieser Erde.
Wir sollten nicht
so viel Gepäck
aufhäufen,
sonst verbauen wir
uns den Horizont und
verlieren
das Ziel
aus den Augen.

Nun bist auch du fort gegangen. Ja, es ist an der Zeit, du bist erwachsen und möchtest dich noch mehr loslösen von deinen Eltern. Deine Geschwister sind schon lange selbständig und fortgezogen. Doch du hast unser gemeinsames Nest immer noch mit deinen jugendlichen fröhlichen Federn gewärmt. Schon frühzeitig habe ich dich zu großer Eigenständigkeit erzogen, und plötzlich wundere ich mich, dass du so gut allein fliegen kannst. Mein Verstand kann das sehr gut nachvollziehen, dennoch schmerzt es meine Seele. Es ist wie ein kleiner Abschied, diese räumliche Trennung, und Abschiednehmen tut auch immer wieder weh. Ich habe in meinem Leben das Hergeben vielleicht nicht oft genug als etwas Selbstverständliches angesehen. Je mehr ich mich aber bewusst im Loslassen übe, und das muss ich wohl noch oft tun, sehe ich diesen Abschied aus einer ganz neuen Perspektive, die mir keinen Grund zum Traurigsein lässt. Wie eine Beschenkte sehe ich mich dann und blicke dankbar auf die gemeinsame Zeit von über zwanzig Jahren zurück. Du hast mein Leben reich gemacht.
Zuerst schaue ich zurück auf den glücklichen Augenblick deiner Geburt, als ich dich gesund in meine Arme schließen konnte. „Wir danken Gott für das gesunde Kind“, habe ich, im Wochenbett sitzend, auf jede Karte geschrieben, die wir anlässlich deiner Geburt verschickt haben. Dass du ein Wunschkind bist, das habe ich dir ja schon öfter erzählt. Außer der Mühe, die ein so kleines Kind ja auch macht, überwiegt aber bei weitem die Freude, mit der du mich all die vielen Jahre beschenkt hast. Sorgen um dich hatte ich nur, wenn du krank warst. Dann brauchtest du meine Nähe intensiv, und ich habe sie dir ganz natürlich gegeben. In den letzten Jahren jedoch, seit ich erkrankt bin, habe ich so viel Zuwendung von dir bekommen. Ich denke da an einen besonders schönen Spätsommertag, du hattest mich vom Arzt abgeholt, und wir suchten gemeinsam für dich eine Winterjacke und für mich einen Mantel aus. Danach saßen wir unter den Arkaden und unterhielten uns einfühlsam bei einem kleinen Mittagessen. Oder du hast mich schon beim morgendlichen Frühstück liebevoll aufgemuntert, wenn ich deprimiert war. Gewiss werde ich die Augenblicke, die wie wärmende Sonnenstrahlen auf mich gewirkt haben, nicht vergessen, wenn du nach meinen Operationen gleich fürsorglich an meinem Bett warst, wenn ich aus der Narkose wieder mit der Wirklichkeit konfrontiert wurde. Besonders habe ich dich auch als Geschenk empfunden, wenn wir in den Urlaubswochen oftmals draußen miteinander Federball gespielt haben. Bei schlechterem Wetter saßen wir gemütlich über das Mühlespiel gebeugt, oder du hast mit meiner Hilfestellung schon Kuchen gebacken. Fällt mir nun gar nichts Negatives ein? Doch, aber was ist hier schon eine kleine nächtliche Störung, wenn du mit deinen Freunden ziemlich laut Geburtstag gefeiert hast. Oder du hast auch mal aus meinem Schrank eine Bluse „gemopst“, die ich dir dann später geschenkt habe. Und manchmal nahm mein Parfüm so sehr schnell ab; dieses merkte ich erst an der Duftwolke, die den ganzen Korridor erfüllte.
Meine Jüngste, du hinterlässt eine farbenfrohe, leuchtende Spur in mir mit einzigartigen Mustern und wunderschönen Eindrücken. Einen erfüllten Abschnitt in meinem Leben kann ich loslassen, weil ich dankbar bin für den „reichen Sommer“, der mir geschenkt wurde. So kann ich auch nach diesem einschneidenden Abschnitt wieder weiterwachsen, wahrscheinlich in eine ganz neue, andere Richtung. Wir alle sind ja immer wieder in unserem Leben Veränderungen unterworfen, die wir bejahen sollten. Auch ich kann den Sommer nicht festhalten, der Herbst ist schon eingezogen, der letzte reife Apfel hat sich vom Ast gelöst. Ich beuge mich dem Naturgesetz und laufe fröhlich singend durch den bunten Herbstwald, mit offenen Sinnen für alle Eindrücke, und habe viel Zeit zum Lauschen, Verweilen und Staunen. Noch immer trage ich das grüne Kleid der Hoffnung, vielleicht ist ein neuer Glanz zu mir schon unterwegs.

Manchmal
Wenn ich morgens erwache
nach einer unruhigen Nacht,
zaghaft und missmutig
in das Tageslicht schaue,
mich den Anforderungen
eines Arbeitstages
nicht gewachsen fühle,
dann halte ich mir bewusst
Gottes Liebe und Schutz
vor Augen.
Diese Gewissheit
macht mich zuversichtlich
und fröhlich, trägt mich durch
den Tag hindurch.
Ich weiß es noch, als wenn es erst vorgestern geschehen wäre, so hat sich dieses kleine Erlebnis damals in meine junge Kinderseele eingedrückt. Es war im Jahre 1947, und ich war neun Jahre alt. Zusammen mit meiner Mutter und meinen vier Geschwistern hatte ich erst zwei Jahre zuvor unsere ostdeutsche Heimat verlassen müssen. Wir wohnten alle zusammen in einem einzigen Zimmer, welches jedoch ziemlich groß war. Abends legten wir uns müde und oftmals auch hungrig auf unsere Strohsäcke. Manchmal konnte ich bei schlechtem Wetter nicht zur Schule gehen, weil ich keine Schuhe hatte. In den Sommermonaten lief ich fast immer barfuß. Und wenn die Hecken frisch geschnitten waren, hatte ich mir Dornen in meine nackten Füße getreten. Taschengeld hatten wir Kinder natürlich auch niemals bekommen. Also, es war an einem sonnigen Tag im Monat Mai, als zwei meiner Brüder und ich auf eine kleine Wanderung gingen. Unser Weg führte uns an schmucken Einfamilienhäusern vorbei, die wunderschöne Vorgärten hatten; für meine Kinderaugen sahen sie wie paradiesische Eingangshallen aus. Es blühten viele bunte Blumen in diesen Gärten. Aber in einem Vorgarten zog ein ganz besonderer großer Strauch unser aller Augenmerk auf sich, wie ein Magnet. Dicke runde weiße Schneebälle hingen in großer Zahl an den Zweigen. Der Strauch war fast so groß wie ein Baum. Ich hatte einen so bezaubernd blühenden „Schneeballbaum“ vorher noch niemals gesehen. Lustig, ja lustig schauten mich diese verführerischen weißen Bälle an. Sie erinnerten mich auch an die langen und kalten Winter in unserer ostdeutschen Heimat. Schneeballschlachten hatte ich im Winter schon oft erlebt. Aber blühende Schneebälle im Frühling, das war etwas ganz Neues für mich. Von diesem Strauch ging etwas Bezauberndes aus, wie in einem Märchen.
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