Schmetterlinge tanzen durch die stille Mittagsluft. Das kleine Mädchen versucht, einen besonders hübschen bunten Lufttänzer zu fangen, aber es gelingt ihm nicht. Dann mag es auch nicht mehr weiter Beeren pflücken und spielt im Sand mit seinen Händen. Ganz in dieses Spiel versunken, hört es plötzlich, wie die Mutter zum Aufbruch mahnt. Die Geschwister spielen noch Greif. Nun werden alle Sachen zusammengepackt. Auf dem Rückweg sammeln sie noch trockene Tannenzapfen zum Beheizen des Herdes. Dabei finden sie noch eine Stelle, an der Pfifferlinge wachsen. Das ergibt noch eine köstliche Pilzmahlzeit. Die alte ausgediente Kindersportkarre ähnelt auf dem Heimweg einem beladenen Erntewagen. Fröhlich singt unsere Kleine Lieder, und die Geschwister stimmen mit ein. Müde und hungrig kommen sie abends zu Hause an. Die blauen klebrigen Hände und die staubigen Füße werden gewaschen.
Dann hat die Mutter auch schon das erfrischende Belohnungsessen auf dem Tisch: frische Blaubeeren mit kalter Milch und Zucker. Trunken vor Müdigkeit und Glückseligkeit fällt das kleine Mädchen an diesem Sommerabend ins Bett. Diese sonnigen Erinnerungen wärmen noch sechzig Jahre später wie Sonnenstrahlen, die immer länger werden.
Es wird alles wieder gut
Trostwort ferner Kinderjahre,
das mir mein Herz gewärmt,
längst in Vergessenheit versunken.
Heute genügt manchmal
ein genussvoller Waldspaziergang,
der auch heilende Kräfte hat.
Im Weiterwachsen,
nach jedweden Abschnitten,
liegt die wahre Lebendigkeit.
Ein Stückchen Paradies wieder gefunden
Abends, ziemlich spät, fällt mir doch noch ein, dass ich meiner ältesten Tochter versprochen habe, das für sie nach ihrer Geburt angelegte Heft mit wichtigen Daten und Notizen der frühen Kindheit aus unserem großen Bücherregal zu suchen. Seit der Maler, vor etwa zwei Jahren, die Wände in unserem Wohnzimmer neu gestrichen hat, stehen die Bücher in einer anderen Reihenfolge als zuvor. Aber ich weiß ganz genau, dass ich die dünneren Bücher nach unten ins Bücherbord gestellt habe. Also gehe ich auf die Knie, und suche emsig nach dem kleinen Heftchen. Ja, da ist es auch schon, und ich freue mich, dass ich es doch so schnell gefunden habe. Beim nächsten Besuch werde ich es meiner Tochter mitgeben.
Doch ich finde bei dieser Suche außerdem ein kleines blaues ledernes Büchlein. Ein wenig Staub wische ich mit meinen Händen von diesem kostbaren alten Fundstück fast liebevoll ab. In Goldbuchstaben eingraviert steht auf dem Deckel „Poesiealbum“. Ich halte dieses
kleine Büchlein wie einen wieder gefundenen Schatz in meinen Händen. Mir ist, als wäre ein singender Zugvogel wieder in mein Herz zurückgekehrt. Plötzlich verfliegt meine Müdigkeit, und ich mache es mir noch einmal zu fortgeschrittener Stunde auf der Couch gemütlich. Ich schlage richtig neugierig das Album auf und finde die ersten Eintragungen meiner verstorbenen Eltern vom Weihnachtsfest 1951. Die Briefe, die meine Eltern mir früher mal geschrieben haben, besitze ich leider nicht mehr. Aber nun blättere ich Seite um Seite um, und es spricht und singt mir förmlich aus allen Buchstaben entgegen.
Der Eintrag meines Konfirmators in mein Poesiealbum
Dieses kleine Büchlein habe ich bei all den vielen Umzügen immer mitgenommen. Damals war es ein inniger kindlicher Weihnachtswunsch von mir, auch so ein Poesiealbum zu bekommen, denn viele Mitschülerinnen hatten mir schon ihr Album zum Einschreiben mit nach Hause anvertraut. Außer meinen Eltern haben mir auch meine vier Geschwister jeweils einen lieben Spruch zur Beherzigung hineingeschrieben. Ich schlage ein paar Seiten weiter um, und ich finde wunderschöne Eintragungen von meinem langjährigen alten Lehrer, meinem Konfirmator, und besonders lebendig wird jetzt vor meinen Augen meine Handarbeitslehrerin, die mir ein Wort für meinen Lebensweg, in so ganz lieber und persönlicher Form in mein kleines Album geschrieben hat. Sie war eine kleine zierliche Frau mit sehr viel Engagement in ihrem Beruf, so habe ich sie jedenfalls als dreizehnjähriges Mädchen wahrgenommen. Wir lernten bei ihr viele Zierstiche von Hand zu sticken, meistens in zarten Pastelltönen. Einen farbigen Kissenbezug haben wir in dem so genannten Durchzugverfahren auch bei dieser liebenswerten älteren Dame herzustellen gelernt.
Monica Maria Mieck: untere Reihe – 4. von rechts
Und in der achten Klasse hatten wir am Montagnachmittag immer Kochen bei ihr. Das hat mir besonders viel Freude gemacht. Einmal war ich mit zwei Schulfreundinnen aus Langeweile bei ihr zu Hause an der Wohnungstür. Wir klingelten mutig, und es dauerte lange, aber sie öffnete uns mit verschlafenen Augen. Sie wies uns nicht einfach unwirsch ab, sondern sie schenkte jedem einen Apfel und entschuldigte sich bei uns mit dem Satz: „Ich bin nicht mehr so jung wie ihr, ich muss mein Mittagsschläfchen halten.“ Zufrieden und beschenkt liefen wir die Treppenstufen wieder auf die Straße hinunter. Ach, heute würde ich mich so gerne noch mit dieser, meiner alten liebenswerten Lehrerin unterhalten wollen, wenn es doch nur möglich wäre! – Mein Rektor hat mir einen sehr weisen Spruch in mein Album geschrieben, zur freundlichen Erinnerung und zur Beherzigung. Ich erinnere mich besonders gerne an diesen warmherzigen Mann, bei dem mir das Singen immer besonders viel Freude gemacht hat. Wie viel Liedgut hat er uns damals vermittelt. Noch heute schöpfe ich daraus für meine therapeutische Seniorenarbeit, die ich mit soviel Hingabe mache.
Ziemlich weit hinten, auf den fast letzten Blättern in meinem Album hat eine Klassenkameradin mir etwas zum Andenken aufgeschrieben. Sie wünschte mir Gesundheit, Glück und Lebensfrieden, dazu Herzensfröhlichkeit. Diese Schulkameradin habe ich nun auf unserem Klassentreffen vor zwei Jahren wieder gesehen. Es war eine innige und für mich wichtige Begegnung. Seitdem schreiben wir uns jede Woche ein bis zwei Briefe. Wir schenken einander volles Vertrauen, gehen auf jedwede Nöte ein, und wir teilen auch unsere Freuden miteinander. Manchmal leisten wir uns auch ein längeres Telefonat. Zu Weihnachten und zum Geburtstag schenken wir uns eine meist selbst gefertigte liebliche Kleinigkeit. Aber es kommt durchaus auch vor, dass die eine oder die andere ganz spontan eine kleine Freude mit der Post verschickt, die den manchmal schweren Alltag erhellen kann. So habe ich in der vergangenen Woche den Poesiealbumeintrag meiner Freundin kopiert und ihn ihr als Überraschung mit in den Brief gelegt. Inzwischen habe ich nun auch schon meinen 1952 in ihr Album geschriebenen Spruch kopiert in den Händen, den ich damals mehr instinktiv ausgewählt habe. Doch ich würde heute wieder meiner Freundin in ihr Poesiealbum schreiben: „Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.“ Ich stimme mit Jean Paul voll überein, denn schon als kleine Mädchen haben meine Freundin und ich schon ihre Heimat verloren. Aber die wunderschönen Erinnerungen an meine pommersche Heimat, den Ostseestrand mit Wellen, Wogen und Sand, die weißen Möwen im Flug und das Barfußlaufen über die Muscheln werde ich niemals vergessen. Ein Stück Paradies war auch unser Gollenwald, in den wir mit unserer Mutter zum Blaubeerenpflücken und Pfifferlingesammeln gingen. Solche Erinnerungen wärmen mein Herz in schweren Stunden und kranken Tagen. Ja, sie helfen wir manchmal das schwere Heute zu meistern. Darum werde ich auch Mitte November, wenn ich wieder zum Klassentreffen in die Stadt meiner Jugendjahre fahre, mein Poesiealbum zuerst in meine Reisetasche legen. Denn mein kleines blaues Ledernes hat noch etliche leere Seiten, die ich mit „Klängen“ füllen lassen möchte, die ich noch gerne im Alter, vielleicht in einem einsamen Zimmer, wenn ich nicht mehr hinausgehen kann, gerne höre. Ich möchte noch ein paar Schätze einsammeln, wie man Früchte in einen Korb legt, damit ich mich im Winter meines Lebens daran laben kann.
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