Auch wenn du
nach einem schweren Schicksalsschlag
zunächst gebrochen am Boden liegst,
so kannst du doch wieder weiterwachsen
wie ein geknickter Baum,
der nach einem mächtigen Sturm
auch seitlich weiterwächst,
wenn seine Wurzeln noch
in der fruchtbaren Tiefe
verankert sind.

Erinnerungen an einen goldenen Sommertag
Beim morgendlichen Aufwachen freue ich mich schon riesig über die Sonnenstrahlen, die unser Kinderzimmer in eine Leuchtstube verwandelt haben. Dann darf ich heute auch gewiss mein schönstes Sommerkleid anziehen; das ganz dünne Weiße, aus durchsichtigem Voile, mit den bunten Blümchen darauf gestickt. Und ich brauche keine Schuhe anzuziehen. Herrlich, diese Leichtigkeit! Aber Schleifen hat mir die Mutter ins Haar gebunden, und im Spiegel schaut mir fast ein pastellfarbener Schmetterling entgegen, der sogar fröhlich singen kann. Eine kindliche Unbekümmertheit nistet sich in mir ein, so als könne mir niemand diesen goldenen Sommertag verderben. Geschwind laufe ich die Treppen herunter und spiele mit anderen Kindern auf der Straße Murmeln knipsen. Spielend kullern die kleinen Kugeln aus Ton, aber die Begehrtesten sind die aus Glas mit bunten schillernden Farbmustern darin. Meine nackten Füße bohren sich in den lockeren Sand hinein. Die warme Luft liebkost meinen kleinen fast nackten Körper. Später laufe ich durstig und hungrig zur Mutter in die Wohnung. Heute gibt es etwas Besonderes zu essen: Grießbrei mit Blaubeeren.
Nach dem Mittagsschlaf wird es draußen zunehmend dunkler. Es ist sehr schwül geworden, immer mehr dunkle Wolken rücken dicht zusammen. Dann folgen Blitz und Donner, und schon fallen die ersten Regentropfen auf die staubige und durstige Straße. Ich stehe gespannt am Fenster und schaue mir das wahrhaft himmlische Naturereignis an. Jetzt prasselt der Regen in dicken Tropfen laut an die Glasscheiben. Doch nach einer Weile hört es schon wieder auf zu regnen. Auf der Straße fließt nun im Rinnstein ein liebliches Bächlein entlang. Wohlig ist es, mit den nackten Füßen in der warmen Matsche zu wühlen, wie in einer dunklen Breimasse. Im weichen nassen Sand kann ich meine kleinen Fußabdrücke hinterlassen. Die Luft ist frischer geworden und der Himmel wieder blau und klar.
Am Abend gehen die Eltern, eine Tante und meine Brüder zusammen mit mir in unseren großen schönen Garten. Wir Geschwister spielen noch Fangen miteinander, über Beete hinweg und durch Wege entlang, hinter Hecken, Büschen und Sträuchern geduckt. Die letzten weißen Johannisbeeren, die die Mutter beim Pflücken übersehen hatte, schmecken mir köstlich. Ringelblumen, Löwenmäulchen, Kapuzinerkresse und all die vielen schmackhaften Früchte geben dem Garten eine ganz besondere Stimmung, eine bunte lachende Fröhlichkeit, wie in einem Paradiesgarten, zumindest für Kinder; denn manchmal höre ich die Mutter stöhnen, wenn sie gebückt in der Sonne das massenweise Unkraut jätet. Wenn sie aber die Blätter der Gurken etwas hochnimmt und die großen langen Früchte sieht, frohlockt sie: „Oh, oh.“ Wir Geschwister warten heute ungeduldig darauf, dass es dunkel wird. So lange darf ich sonst nicht aufbleiben. Aber heute ist ja ein ganz besonderer Tag, an dem wir den Sommer feiern wollen. Unsere Tante hat uns nämlich Lampions mitgebracht, die von eigenwilliger Schönheit sind. Meine Brüder bekommen Papierlaternen in Form eines Truthahns und Gockelhahns geschenkt, und ich darf einen schillernd bunten Erpel-Lampion mein eigen nennen. Endlich fängt es langsam an zu schummern, und ich setze mich schon erwartungsvoll in die gemütliche Laube auf die rustikale Holzbank, die mein Vater gezimmert hat. Diese Laube ist ringsherum dicht mit Stangenbohnen umwachsen, und auch die Blätter der rankenden Gemüsepflanze ergeben ein dichtes schützendes grünes Dach. Ich fühle mich in dieser Behausung wie in einem Naturparadies, einem Ort der Glückseligkeit.
Mit frischen Möhren, die noch Wassertropfen an ihren Spitzen haben, kommen die Brüder von der Regentonne her gelaufen und geben auch mir etwas „Futter“ gegen den aufkommenden Hunger. Danach holt unsere Mutter die Kerzen aus der Tasche, die sie von zu Hause mitgebracht hat. Das Aufstecken der Lichter in den Laternen und das Richten der Haltegriffe ist offenbar Vatersache. Inzwischen ist es auch tatsächlich dunkel geworden, und es weht kein Wind. Mit einem Streichholz zündet unser Vater die Lichter in den wunderschönen Lampions an, und erst jetzt kommen die Farben so richtig zu ihrer Geltung. Und alle Seligkeit auf Erden hat in meinem kleinen Kinderherz Platz. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich so dasaß, mit dieser herrlich bunten Papierlaterne in der kleinen Hand, die ich als Leuchtkugel hoch gegen den tiefdunkelblauen Sommernachthimmel hielt. Aber ich bin gewiss, dass dieser goldene Sommertag einer der schönsten Tage in meinem Leben war.
Befreiend
All die vielen Verletzungen
unserer Vergangenheit
nicht mühlsteinschwer
durch die Gegenwart schleppen,
sondern verzeihen, vergeben,
wie auch uns immer wieder
barmherzig durch Christus vergeben wird,
wenn wir unsere Verfehlungen bereuen.
Wir kramen in der Erinnerungstruhe
Zuerst singen wir das Lied von der Vogelhochzeit, und ich staune, wie viele der anwesenden alten Damen und Herren noch fast alle Strophen auswendig können. Ich schiebe ganz bewusst eine unsichtbare große Truhe in den Raum. Diese Truhe ist randvoll mit kostbaren herrlichen Erinnerungen gefüllt. Ich bin nur beim Öffnen des offenbar schweren Deckels etwas behilflich.
In unserer trauten Runde sitzen wir wöchentlich einmal einen Nachmittag lang zusammen. Ganz spontan werfe ich das Wort „Hochzeit“ schwungvoll in den Raum und frage alle Anwesenden, was ihnen zu diesem Begriff einfällt.
Da wird es auch schon erfrischend lebendig. In den meisten Gesichtern lockern sich die strengen Züge, Augen fangen an zu strahlen, ein Schmunzeln setzt sich freudig in so manchen Mundwinkel. Aus unserer Erinnerungstruhe steigen auf: Hochzeitskutsche, Hochzeitsmahl, Trauzeugen, Gäste, Geschenke, Ringe, Brautstrauß, Myrtenstrauß und Kränzchen, Schleier und Brautkleid, Festrede, Standesamt und Kirche, Liebe und Zuneigung.
Dann bücken wir uns etwas tiefer über die Truhe und falten jedes Brautkleid einzeln sorgfältig auseinander: Wir sehen weiße Traumkleider aus reiner Seide, Spitze, Baumwolle, Satin und Tüll. Mir ist's, als schlüpfe jede der alten Damen noch einmal für ein paar Minuten der Glückseligkeit in ihr Brautkleid. Und ich erfahre sehr viel über die verschiedensten und vielfältigsten Macharten, über das schönste Kleid im Leben einer jeden Frau. Ein alter Herr erinnert sich noch lachend, dass er damals vor über 60 Jahren den Brautstrauß vergessen hatte. In unserer Kiste sind also noch duftende Brautsträuße versteckt: Weiße Nelken, rote Rosen und Maiglöckchen kommen da zum Vorschein.
Ganz behutsam stellen wir uns die Sträuße auf unsere Tische, damit auch nichts verloren geht von diesen herrlichen Erinnerungen. Bunte Farben breiten sich aus, Düfte steigen auf, Freude sprießt aus allen Augen und Herzen. Wohlig warm und gemütlich ist es im Raum. – Auf meinem Heimweg etwas später kommt mir ein Satz in meinen Sinn, den ich vor längerer Zeit irgendwo gelesen habe: „Gott schenkt uns Erinnerungen, damit wir Rosen im Winter haben.“
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