Bereits am nächsten Tag nahm er seine Beschäftigung als Umsteiger deshalb wieder auf.
Ein Rucksack voller Überraschungen
Wieder einmal stand Lukat vor der großen Anzeigetafel in der Bahnhofshalle. Nur für einen einzigen Zug war eine Verspätung angegeben – und die ausgerechnet für den Metronom, der sonst immer pünktlich war. Der Zug von Göttingen nach Uelzen kam 30 Minuten zu spät in Hannover an. Das musste er ausnutzen. Er ging zum Bahnsteig 8 und setzte sich auf eine der unbequemen Drahtgitterbänke. Früher hatte es auf den Bahnsteigen noch Warteräume gegeben. Heute saß man bei Wind und Wetter im Freien, und der Wind pfiff durch das Gitter. Zum Glück waren die Bahnsteige in Hannover wenigstens überdacht. Aber Lukat war auf solche Situationen durch entsprechende Kleidung immer gut vorbereitet. Jede Minute Wartezeit brachte ihm schließlich Geld.
Als der Zug endlich in Hannover einfuhr, hatte sich die Verspätung auf 32 Minuten erhöht. In dieser Hinsicht war Lukat pingelig.
Er stieg in der Mitte des Zuges ein, in der Absicht, am Bahnhof Langenhagen wieder auszusteigen. Das waren nur sieben Minuten, also nicht zu erwarten, dass die Verspätung auf dieser kurzen Strecke wieder eingeholt werden konnte.
So geschah es dann auch. In Langenhagen hatte Lukat die 32 Punkte „in der Tasche“. Gerade fuhr auch der Gegenzug nach Hannover auf dem anderen Gleis ein, der leider pünktlich war. Doch anstatt in Hannover einzufahren, wartete der Zug genau 6 Minuten vor einem Haltesignal. Lukat sah erfreut, dass irgendwelche Rangiermaßnahmen abgewartet werden mussten. So war er an diesem Tag bereits um 38 € reicher.
Und nun griff Lukat zu einem ganz besonderen Trick. Er stieg in Hannover aus und schloss damit die Buchung zu seinem Vorteil ab. Dann stieg er zwei Wagen weiter vorne wieder ein, was eine erneute Verbuchung der Verspätung bewirkte. Jetzt war er auf dem Weg nach Göttingen. Doch bis dahin wollte er gar nicht.
Er musste erst einmal wieder zur Ruhe kommen und sich nach der Warterei auf dem zugigen Bahnhof etwas aufwärmen. Er kletterte in dem Doppelstockwagen nach oben und genoss die Aussicht auf das Leinetal.
Er musste wohl etwas eingeschlummert sein. Ein ungewöhnliches Stimmengewirr weckte ihn. Noch ehe er die Herkunft dieser Stimmen richtig erfassen konnte, kam eine ganze Meute von Menschen die Treppe heraufgestürzt und rannte in panischer Angst an ihm vorbei. Die Fahrgäste in den Sitzen des Obergeschosses hatten gar keine Chance aufzustehen, weil die Meute durch den Mittelgang nach hinten hetzte. Irgendetwas weiter vorn hatte sie in Angst und Schrecken versetzt.
„Was ist denn los?“, fragte er einen Vorbeieilenden.
„Eine Riesenschlange!“, keuchte der Mann.
„Eine Giftschlange!“, kreischte eine nachfolgende Frau.
Das erklärte natürlich die Aufregung. Alles war auf der Flucht.
Lukat fühlte plötzlich als ehemaliger Lokführer eine gewisse Verantwortung. Wenn alles in Panik geriet, musste er Ruhe bewahren. Einen Augenblick schielte er auf den Notbremshebel. Wenn er diesen zog, würde eine Notbremsung eingeleitet werden, die von dem Lokführer nicht beeinflusst werden konnte. Das würde auf jeden Fall eine kräftige Verspätung ergeben.
Doch Lukat verwarf diesen Gedanken gleich wieder. Die Panikwelle hatte inzwischen die hintere Treppe erreicht und stieß dort auf die Flüchtenden des Untergeschosses. Das gab ein mächtiges Durcheinander. Männer fluchten, Frauen kreischten, Kinder heulten vor Angst. Das würde bestimmt nicht gut gehen.
Die meisten Sitzenden hatten sich den Flüchtenden angeschlossen und drängelten von hinten nach, aber der Mittelgang war wieder frei.
Lukat stand auf und ging nach vorn, um die Ursache der Panik zu erforschen. Der nächste Wagen war völlig leer. Kein einziger Fahrgast befand sich mehr an Bord. Das galt für beide Etagen.
Auch der nächste Wagen war menschenleer, jedoch stand auf einer Sitzbank ein einsamer Rucksack. Genau genommen, gab es natürlich noch weitere Gepäckstücke, die überall herumlagen. Die meisten Flüchtlinge hatte sie einfach zurückgelassen. Doch dieser Rucksack erregte Lukats Aufmerksamkeit, weil er sich bewegte. Ja, tatsächlich sah es aus, als wäre etwas Lebendiges in ihm.
„Eine Schlange!“, schoss es Lukat sofort durch den Kopf. Wahrscheinlich befand sich die Schlange dort drin, welche die anderen Reisenden erwähnt hatten.
Doch welcher Reisende trug eine Schlange in einem Rucksack mit sich herum, und wo war er jetzt? Er konnte doch unmöglich ebenfalls geflüchtet sein.
Mit gehörigem Abstand starrte Lukat den Rucksack an. Was sollte er jetzt machen? Am besten wäre es, zunächst die Einfahrt in den nächsten Bahnhof abzuwarten. Dann konnte sich das Bahnpersonal darum kümmern. Es musste doch ein Zugbegleiter irgendwo im Zug sein. Der Lokführer hatte sicherlich noch nichts davon mitbekommen.
Lukat ging zum vorderen Ausgang, wo die beiden Treppen zusammentrafen. Dort hatten sich ein paar verängstigte Fahrgäste zusammengedrängt, die ihn erwartungsvoll anschauten.
„Was ist los?“, wollte Lukat wissen.
Eine Frau gab zitternd Auskunft. „Da kam eine Schlange aus dem Rucksack. Ein Mann wollte sie einfangen, aber sie flüchtete unter die Sitze. Da ist der Mann abgehauen!“
„Was für ein Mann?“, wollte Lukat wissen.
„So ein Feigling!“, rief ein anderer Fahrgast dazwischen. „Er hat nur ‚Vorsicht, die ist giftig!‘ gerufen und ist nach hinten geflohen. Da sind alle aufgesprungen und ihm nachgerannt!“
„Und warum sind Sie nicht mitgeflohen?“, forschte Lukat weiter.
„Ich habe erst gedacht, das kann doch nicht so schlimm sein und habe mich gebückt und unter die Sitze geguckt. Die anderen haben mir geholfen.“ Er deutete auf die anderen Reisenden. Aber dann hat die Frau da gesagt, der Rucksack bewegt sich noch.“
Die Frau nickte zustimmend. „Da sind noch mehr Schlangen drin. Das war uns denn doch zu viel!“
Lukat begriff. Er öffnete mit seinem Spezialschlüssel eine Klappe in der Wand vor der Toilette und nahm einen Telefonhörer heraus.
„Hallo, hier ist Robert Lukat, ehemaliger Lokführer im Ruhestand …“, begann er.
„Hallo Robert, du alter Umsteiger!“, antwortete der richtige Lokführer aus dem Steuerstand heraus. „Hier ist Marquard. Was ist los? Bist du schon wieder auf Verbrecherjagd?“
„Viel schlimmer!“, gab Lukat zu. „Bekomm jetzt keinen Schreck, Marquard! Es befinden sich mehrere Giftschlangen im Zug. Wir müssen ihn im nächsten Bahnhof evakuieren. Wo ist denn der Zugbegleiter?“
„Wir haben keinen. Dieser Zug ist auf Einmannbetrieb umgestellt, und ich habe eigentlich auch keine Aufgabe mehr. Alles geschieht vollautomatisch. Das ist nicht mehr so, wie zu deiner Zeit!“
Lukat erinnerte sich, davon gelesen zu haben. Aber er wusste nicht, dass einige Züge bereits umgestellt worden waren.
„Gut“, überlegte er. „Dann mach ich das eben! Du kannst schon mal den Bahnhof informieren!“
„Das ist Banteln“, erwiderte Marquard. „Der ist ebenfalls schon ohne Personal. Das macht jetzt alles der Fahrdienstleiter von Hannover aus. Und der beobachtet nur noch die grünen und roten Lichter. Heute macht Ben dort Dienst. Ich ruf ihn mal an … Aber wir fahren ohnehin gerade in Banteln ein.“
Der Zug bremste, und der Lokführer gab die Türen frei. Eine Evakuierung brauchte gar nicht mehr angeordnet zu werden. Kaum war der Zug zum Stehen gekommen, quollen die Menschenmassen schon heraus. Es gab einige Stürze, doch keine größeren Verletzungen. Einige Passagiere rannten sofort weiter und flohen vom Bahnsteig – zum Teil sogar über die Gleise – andere blieben abwartend auf dem Bahnsteig stehen. Zum Glück hatte der einfahrende Gegenzug aus Göttingen bereits stark abgebremst, sodass keiner auf den Gleisen erfasst wurde.
Читать дальше