„Es sei denn, er hat Informationen über einen Zugzwischenfall“, überlegte der Controller.
„Wie bist du denn auf den Umsteiger gekommen?“, wollte Ben jetzt wissen.
„Das ist ja das Verrückte!“, platzte der IT-Mann heraus. „Er befindet sich im Leichenabteil. Dort werden statt zwei Personen plötzlich drei angezeigt. Dafür gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder, er ist widerrechtlich dort eingedrungen oder er lag im Sarg und ist wieder auferstanden.“
„Das glaubst du ja wohl selbst nicht!“, zweifelte der Fahrdienstleiter.
„Dem Umsteiger traue ich alles zu!“, behauptete der Controller. „Aber Scherz beiseite: Im Sarg liegt die Leiche eines Bankers aus Zürich, der in die Schweiz übergeführt werden soll. Sein ID-Chip wurde vor dem Einsargen deaktiviert. Von dort gibt es also keine Anzeige. Der Sarg wurde bereits zwei Stunden vor der Zugabfahrt auf Gleis 5 in den Spezialwagen verladen. Das ist ein reines Rangiergleis, zu dem kein Fahrgast Zugang hat. Der SSE nahm dort den Sargwagen auf und fuhr zum Gleis 6, um die Fahrgäste aufzunehmen. Wegen der Rangiermaßnahmen fuhr der SSE ausnahmsweise von diesem Gleis ab, wo normalerweise der IR nach Goslar steht. Das hatte leider zu Beschwerden einiger Fahrgäste geführt, obwohl die Änderung lange vorher angezeigt worden war. Zum Glück hatte es aber keinerlei Verspätung gegeben.“
„Und was ist jetzt mit Robert Lukat?“, fragte der Fahrdienstleiter ungeduldig.
„Der ist praktisch genau im Moment der Abfahrt im Sargabteil aufgetaucht. Auf welchem Wege auch immer. Jetzt befinden sich die beiden Sargbegleiter und er in dem Abteil“, schloss der Controller seinen Bericht.
„Ich verstehe“, überlegte Ben. „Wäre er in einen anderen Wagen zugestiegen, hätte es keinen Alarm gegeben. Er wäre lediglich als Fahrgast registriert worden. Die Zusatzgebühren für den SSE wären automatisch von seinem Konto abgebucht worden. Das könnte womöglich die Lösung sein. Der Zug hält nur in Frankfurt, Basel und Mailand. Aus irgendeinem Grund muss er in eine dieser Städte und will die Fahrkosten sparen. Im Leichenabteil wird er nicht als Fahrgast registriert.“
„Dafür hat er aber einen Alarm ausgelöst!“, gab der Controller zu Bedenken.
„Irgendetwas stimmt da nicht!“, resümierte der Fahrdienstleiter. „Das passt alles nicht zu Robert. Er kommt frühestens in etwa zwei Stunden in Frankfurt wieder raus. Bis dahin ist das Abteil verschlossen. Ich werde die Bundespolizei in Frankfurt informieren. Die kann sich dort mal umsehen.“
„Mach doch nicht solchen Aufstand!“, besänftigte der Controller. „Wer weiß, was Lukat vorhat? Wir wollen ihm doch keinen Ärger machen!“
„Lukat muss einen Hinweis auf eine Verspätung des SSE haben. Sonst wäre er nicht dort eingestiegen. -- Andererseits kommt die Verspätung nicht seinem Punktekonto zugute, wenn er im Leichenabteil sitzt. Das ergibt alles keinen Sinn!“
„Wir sollten uns auf irgendeinen Zwischenfall vorbereiten. Ich behalte ihn im Blick. Ich habe ja sein Signal!“
Zum gleichen Zeitpunkt ahnte Lukat nicht, was sich da zusammenbraute. Er konnte langsam nicht mehr stehen, und die Sargbegleiter machten keine Anstalten, ihm einen Platz anzubieten.
„Wo soll denn die Reise hingehen?“, fragte er mit einem Blick auf den Sarg.
„Nach Basel“, erwiderte der Glatzkopf mürrisch.
„Nach Basel?“, fragte Lukat irritiert. „Der Zug fährt doch nur bis Goslar! Und von dort gibt es keine Zugverbindung nach Basel!“
Die beiden Männer sahen sich an. „Wo sollen wir hier sein?“, fragte der Kleine. „Im Zug nach Goslar? Das muss ein Irrtum sein!“
Lukat schwieg. Das Abteil hatte keine Fenster, durch die er hinaussehen konnte. Dann hätte er sofort gesehen, wo sie sich befanden. Er kannte jeden Kilometer des Norddeutschen Streckennetzes. Weil er nicht mehr stehen konnte, setzte er sich kurzerhand auf den Sarg, was sofort den Unmut der Männer hervorrief. Empört warfen sie ihm Pietätlosigkeit und Störung der Totenruhe vor, so dass Lukat wieder aufstand.
Resigniert ließ er sich an der Wand nieder. Das war noch unbequem genug. Von der Fahrzeit her, musste der erixx jedoch längst in Sarstedt gehalten haben. Nach Fahrplan hätte er sogar schon Hildesheim hinter sich gelassen. Da stimmte etwas nicht! Lukat sah ein, dass er sich wirklich im SSE nach Basel befand. Das bedeutete, dass er bis Frankfurt nicht mehr aus dem Leichenabteil herauskam. Er musste also bis Mittag noch auf dem unbequemen Fußboden ausharren.
Die beiden Männer waren nicht gerade angenehme Reisebegleiter. Misstrauisch starrte sie ihn die ganze Zeit an und schwiegen. Brachte der Beruf das mit? Immer in Begleitung eines Toten?
Endlich ergriff der Glatzkopf noch einmal das Wort. „Sind wir wirklich im Zug nach Goslar?“, wollte er wissen.
„Ich fürchte, ich habe mich geirrt“, gab Lukat zu. „Dann hätten wir schon mehrmals gehalten. Es sieht so aus, als säßen wir tatsächlich im SSE nach Mailand.“
„Basel“, berichtigte der Kleine.
„Der Zug endet in Mailand und hält nur in Frankfurt und Basel. Danach fährt er durch den Gotthardtunnel bis nach Mailand“, erklärte Lukat.
„Interessiert uns nicht!“, brach der Mann die Erklärung ab. „Hauptsache, wir kommen nach Basel!“
„In Frankfurt steige ich dann aus!“, sagte Lukat seufzend. Den Tag konnte er abschreiben. Zurück musste er auch noch. Das kostete mit dem SSE viel Geld.
Die Zeit verging, bis ihn ein merkwürdiges Geräusch aus einem kleinen Schlummer aufweckte. Er hörte ein leises Klopfen, das ihn sofort aufmerksam werden ließ. Als Lokomotivführer war er es gewohnt, auf jedes ungewöhnliche Geräusch zu reagieren. Das hier war ungewöhnlich!
Er drehte den Kopf, um die Richtung zu ermitteln. Sie kam vom Sarg her. Lukat lauschte weiter, und auch die Männer schienen aufmerksam geworden zu sein. Sie schauten sich an und dann zum Sarg hinüber.
Das Klopfen wurde lauter und eindringlicher. Sollte der Tote wiedererwacht sein?
Lukat stand langsam auf und wollte zum Sarg hinübergehen, als die beiden Männer aufsprangen und ihn gewaltsam niederwarfen.
„Weg von dem Sarg!“, brüllte der Glatzkopf und setzte sich auf Lukats Oberkörper.
Lukat bekam kaum noch Luft. „Da ist was in dem Sarg!“, keuchte er mühsam. „Wir müssen nachsehen!“
„Wir müssen gar nichts!“, herrschte der Kleine ihn an. „Der Sarg bleibt zu!“
In diesem Moment klappte allerdings der Sargdeckel von allein nach oben und der Tote richtete sich auf. Lukat hatte normalerweise gute Nerven. Ihn konnte so leicht nichts erschüttern, doch jetzt schrie er laut auf. Der Leichnam sah im Kerzenlicht gespenstisch aus. Ein bleiches Gesicht mit dunklen Augenhöhlen starrte ihn an. Lukat erlebte gerade eine Wiederauferstehung. Das kannte er bisher nur von Jesus – und von Lazarus natürlich.
Aber das hatte noch nie jemand gesehen. Es gab nur Überlieferungen aus der Bibel. Hier stand Lazarus aber wirklich vor ihm.
„Ihr habt doch gesagt, ihr wolltet mich gleich nach der Abfahrt rauslassen!“, schimpfte Lazarus. Dann sah er die Männer, die sich auf dem Boden wie Ringkämpfer herumwälzten. Er stutzte. „Was macht ihr eigentlich?“ Jetzt erst versuchte er, die Situation zu deuten und entdeckte auch Lukat. „Wie kommt der denn rein?“
Lukat erfasste blitzschnell die neue Lage. Die ganze Sache mit dem Sarg war irgendeine Gaunerei. Die Leiche war gar nicht tot! Trotzdem war die Aufregung plötzlich zu viel für ihn. Er verlor das Bewusstsein.
Als der Zug in Frankfurt einfuhr, standen schon zwei Beamte der Bundespolizei auf dem Bahnsteig. Sie hatten nicht viel Zeit, denn der Zug hielt nur wenige Minuten. Sobald er zum Stehen kam, wurden alle Türen zentral entriegelt und konnten durch Knopfdruck geöffnet werden. Das galt aber nicht für das Leichenabteil. Die Türen waren mit der Aufschrift „Dienstabteil“ versehen und ließen sich von außen nicht öffnen. Die Beamten kannten allerdings den Hebel unter einer Abdeckleiste, mit dem die Türen entsperrt werden konnten. Zischend entwich die Druckluft und fast unhörbar glitten die beiden Flügel auf. Sofort betraten die beiden Beamten das Abteil und überschauten die Situation: Zwei Männer saßen im Kerzenlicht am Tisch, ein dritter bückte sich gerade, als wollte er sich die Schuhe zubinden.
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