Hatte der Zug bereits bei Abfahrt eine Verspätung, wurde die entsprechende Entschädigung als Gutschrift von dem Fahrpreis abgezogen. Für Lukat war das besonders günstig, da er auf allen Regionalverbindung ohnehin Freifahrt hatte. Auf diese Weise gab es nur ein Haben auf seinem Kundenkonto, das ihm monatlich ausgezahlt wurde. Sein Trick war es nun, möglichst viele Züge mit Verspätung zu erwischen.
Das war komplizierter, als man sich das vorstellen konnte, denn ein Gewinn auf dem Konto wurde auch gleich wieder eliminiert, wenn der Zug eine Verspätung aufholte. Es brachte also nichts, wenn Lukat zu lange in einem Zug sitzen blieb. Am günstigsten war es, einen Zug mit Verspätung zu besteigen, um ihn dann am nächsten Bahnhof wieder zu verlassen. Dann hatte er seine Euros in Sicherheit.
Doch auch diese Regel war nur bedingt anwendbar. Lukat musste jedes Mal eine Analyse der Möglichkeiten anstellen. Es konnte ja sein, dass der Zug seine Verspätung noch vergrößerte. Dann war es besser, sitzen zu bleiben. Andererseits musste er auch beachten, wo er ausstieg. Es ergab keinen Sinn, in einem Kuhdorf zu landen, wo der nächste Zug erst zwei Stunden später kam. Das musste – im wahrsten Sinne des Wortes – Zug um Zug gehen.
Robert Lukat war ein Meister im Umsteigen. Nur durch häufiges Umsteigen konnte er alle Möglichkeiten ausschöpfen. Das machte im keiner nach. Er wurde deshalb im Kreise seiner noch aktiven Kollegen auch als „Umsteiger“ bezeichnet, was er wie eine persönliche Auszeichnung hinnahm.
Auf diese Weise konnte er an guten Tagen bis zu 50 Euro dazuverdienen – im Schnitt monatlich etwa 1000. Das war mehr als seine Standardrente, und vor allem steuerfrei und völlig legal.
Allerdings war er auch täglich acht bis zehn Stunden unterwegs.
Anfangs hatte ihm die Bahnverwaltung noch einen Strich durch die Rechnung machen wollen. Man weigerte sich, ihm die erlangten Guthabenpunkte auszuzahlen, mit der Begründung, ihm würden als Rentner keinerlei finanzielle Nachteile entstehen. Das wollte Lukat nicht so ohne weiteres hinnehmen und klagte das Geld ein.
Der Richter hörte sich die Argumente beider Parteien sorgfältig an, bis er feststellte, dass der Wortlaut des Gesetzes keine Begründung mehr verlangte.
Auch den Einwand der Bahn, der Kläger würde die Fahrten nur vornehmen, um Entschädigungsleistungen zu kassieren, lehnte der Richter ab. Jeder Rentner hat das Recht, seinen Lebensabend und seine Freizeit nach eigenem Gutdünken zu verbringen. Er muss dabei den Sinn und Zweck oder sogar die Notwendigkeit seiner Fahrten nicht begründen, weil das Gesetz eine solche Begründung nicht verlange. Auch verstoße die Tätigkeit des Klägers nicht gegen die guten Sitten. Abschließend schlug er den Parteien einen Vergleich vor, um ein öffentlichkeitswirksames Urteil zum Nachteil der Bahn zu vermeiden.
Der Vertreter der Bahn bot deshalb an, die geforderten Leistungen auch für die Zukunft anzuerkennen, wenn sich der Kläger zum Stillschweigen verpflichte. Im Weigerungsfalle würde man höhere Instanzen aufrufen, um ein Präzedenzurteil herbeizuführen. Das war natürlich für die Bahn außerordentlich riskant, denn ein solches Urteil hätte einen großen Teil der Öffentlichkeit animiert, es dem Kläger gleichzutun.
Doch Lukat stimmte dem Vergleich zu und bot an, seine Klage zurückzuziehen, wenn die Bahn die Gerichtskosten übernahm, die sonst an ihm hängengeblieben wären. Mit saurer Miene stimmte der Anwalt der Bahn ebenfalls zu, was für diese sicherlich kein großer Verlust war.
Auf diese Weise durfte Robert Lukat seinem einträglichen Nebenerwerb ohne Einschränkungen nachgehen.
Bei seinen noch aktiven Kollegen hatte sich das alles natürlich schnell herumgesprochen. Er war bald bekannt, wie ein bunter Hund. Möglicherweise entwickelte sich manchmal sogar ein positiver Wettbewerb. Sobald ihn die Kollegen irgendwo entdeckten, versuchten sie, Verspätungen zu vermeiden oder wieder aufzuholen.
Er fuhr immer ohne Gepäck, doch eine Umhängetasche mit ein paar belegten Broten, einer Thermosflasche mit Tee und seinem wichtigsten Utensil, dem Tablet führte er mit. Darauf konnte er jede Zugverbindung und jede Verspätung ablesen. Diese App stand jedem anderen Reisenden auch zur Verfügung.
Der Beginn war jeden Morgen um 08.57 Uhr am Gleis 2 des Bahnhofs Großburgwedel. An diesem Montag kam der Zug ausnahmsweise mal mit 2 Minuten Verspätung an. Das brachte die ersten zwei Punkte an diesem Tag. Lukat überlegte, ob er am Bahnhof Isernhagen wieder aussteigen sollte, um sich die Punkte zu sichern. Dann hätte er allerdings eine ganze Stunde auf den nächsten Zug warten müssen. Das lohnte den Aufwand also nicht.
Am Bahnhof Langenhagen war die Verspätung schon zur Hälfte aufgeholt und in Hannover fuhr der Zug pünktlich ein. Die zwei Punkte waren also wieder futsch.
Das machte ihm nichts aus. Meist fuhr der Metronom sogar ohne Verspätung. Das wäre dann aufs Gleiche herausgekommen.
Unterwegs hatte Lukat schon eifrig sein Tablet studiert, insbesondere den Ausdruck der Anzeigetafel. Für zwei Züge war Verspätung gemeldet. Der IR nach Gifhorn fuhr 10 Minuten später. Das brachte 10 Punkte, allerdings hatte der Metronom Richtung Göttingen wegen einer Baustelle sogar 30 Minuten Verspätung. Der Zug fuhr also erst eine halbe Stunde später ab. Lukat rechnete blitzschnell. Wenn er den Zug nach Gifhorn nahm und nur bis Lehrte fuhr, konnte er mit dem Gegenzug noch zurückfahren und rechtzeitig den Zug nach Göttingen erreichen. Das war natürlich nur wegen dessen Verspätung möglich. Sobald er in diesem Zug saß, hatte er bereits 40 Punkte auf dem Konto. Das war ungewöhnlich viel.
Es klappte! Zumindest bis Hannover. Er musste den Zug nach Göttingen nur so schnell wie möglich wieder verlassen, um die Punkte zu sichern. Das war frühestens in Sarstedt möglich. Der Gegenzug war aber gerade abgefahren, was auf eine einstündige Wartezeit hinauslief. Fuhr er weiter, verkürzte sich auf jedem Bahnhof die Wartezeit und war in Alfeld fast ausgeglichen. Es lohnte sich also, zunächst auf den weichen Sesseln des Zuges zu verweilen, als auf einem zugigen Bahnsteig herumzustehen. Allerdings vergrößerte sich das Risiko, die gewonnenen Punkte wieder zu verlieren.
An diesem Montag war es regnerisch, also blieb Lukat erst einmal sitzen, zumal auch der Gegenzug wegen der Baustelle mit Verspätung fahren würde.
Auf dem Bahnhof Banteln fuhr gerade der Gegenzug ab. Wo kam der denn plötzlich her? Das brachte Lukats Berechnungen völlig durcheinander. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass sein eigener Zug inzwischen mächtig aufgeholt hatte. Die Verspätung war auf 10 Minuten zusammengeschrumpft. Das war ein Verlust von 20 Punkten. Wäre er mal in Sarstedt ausgestiegen!
Doch das nahm Lukat mit verbissenem Ehrgeiz. Es gab jetzt zwei Möglichkeiten für ihn. Entweder er stieg in Alfeld aus und wartete eine Stunde auf den Gegenzug oder er fuhr bis zu einer Umsteigemöglichkeit weiter. Das war frühestens in Göttingen, also eine halbe Stunde später. Diese Zeit nutzte er für eine ausgiebige Frühstückspause im Zug und holte seine Butterbrote hervor, während er an den Sieben Bergen vorbei durch das Leinetal fuhr.
Auf den Metronom war erfahrungsgemäß Verlass. Leider nicht in Lukats Interesse, denn in Göttingen war die komplette Verspätung wieder aufgeholt. Eine Baustelle hatte er nirgendwo gesehen. Wo sollte denn diese gewesen sein? Schade! Die 30 Minuten von Hannover waren futsch. Störungen auf der Rückfahrt nach Hannover waren nicht zu erwarten.
Inzwischen war es schon 10.00 Uhr. Er schaute sich auf dem Eingangstableau des Bahnhofs die folgenden Abfahrten an. Nur der IR Richtung Glauchau in Sachsen fuhr mit Verspätung ab. Das könnte ihn einigermaßen entschädigen. Er wollte zwar nicht nach Sachsen, doch in Nordhausen konnte er wieder aussteigen und den Harz umfahren. Das war eine komplizierte Strecke mit vielen kürzeren Verbindungen, gab ihm aber bei jedem Umsteigen die Chance, weitere Punkte zu sammeln.
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