Bei der Abfahrt nach Glauchau hatte Lukat zunächst 16 neue Punkte auf dem Konto. Die galt es jetzt zu retten.
Er hatte sich in eine schlecht zugängliche Region manövriert. Er wollte ja schließlich abends wieder zu Hause sein.
Er wählte also die Bimmelbahnstrecke, wie er sie immer nannte. Eigentlich war sie zur Bewältigung längerer Strecken völlig ungeeignet, doch für Lukat genau richtig. Nicht ohne Grund nannte man ihn Umsteiger.
Als er in Nordhausen ausstieg, hatte sich sein Punktekonto auf 18 Punkte erhöht. Die damit verbundene Verspätung brachte ihm aber weitere 18 Punkte, denn der IR nach Bad Lauterberg hatte als Anschlusszug gewartet.
In Bad Lauterberg musste Lukat vom Bahnhof 300 Meter bis zum Domänenweg laufen. Dort hielt der Bahnbus nach Herzberg. Er kam leider pünktlich und erreichte schon 15 Minuten später Herzberg. Weiter ging es über Osterode, Seesen, Bockenem und Hildesheim nach Hildesheim und von dort aus mit Bussen des Regionalverbands über Nordstemmen nach Sarstedt, wo er wieder den Metronom Göttingen – Uelzen erreichte.
Als er gegen 19.00 Uhr zu Hause in Großburgwedel ankam, hatte er insgesamt 13 Bahn- oder Busverbindungen benutzt und 52 Punkte eingesammelt.
52 Euro in 10 Stunden – das war ein magerer Stundenlohn. Aber im Laufe eines Monats kam trotzdem so einiges zusammen. Außerdem hatte er ja Zeit, kam etwas herum und konnte Leute beobachten. Das machte er besonders gern.
Einige Tage später hatte der Metronom ausnahmsweise mal Verspätung. Er kam bereits 20 Minuten zu spät in Großburgwedel an und behielt diese auch bis nach Hannover. Das war ein guter Beginn.
Allerdings blieb Lukat dadurch nur wenig Zeit für den Anschlusszug nach Goslar, den er sich ausgesucht hatte.
Als der Metronom in den großen Bahnhof Hannover einfuhr, stand der Interregio „erixx“ nach Goslar schon auf dem Nachbargleis. Das konnte knapp werden, denn um dorthin zu gelangen, musste Lukat den Bahnsteig wechseln. Der erixx stand zwar direkt neben ihm – er konnte fast mit der Hand hinüberreichen – jedoch auf dem benachbarten Bahnsteig. Da galt es, zunächst den eigenen Bahnsteig zu verlassen, die Treppe bis zum Verbindungsgang hinabzusteigen, sich zwischen den vielen Bahnreisenden hindurch zu drängeln, die nächste Treppe wieder nach oben zu eilen … Das war niemals zu schaffen!
Aber wozu war Lukat einmal Lokomotivführer gewesen? Er kannte alle Tricks! Auch die verbotenen!
Zum Glück war er in den letzten Wagen des Metronoms eingestiegen. Genau der hinteren Tür gegenüber befand sich die hinterste Tür des erixx … und dazwischen lag der Lokführersteg. So wurde der kurze Holzsteg genannt, der die Züge miteinander verband, um den Lokomotivführern im Bahnhof einen kurzen Wechsel von Zug zu Zug zu ermöglichen. Die dem Bahnsteig abgewandten Türen waren natürlich gesperrt, damit niemand versehentlich auf der falschen Seite ausstieg. Doch Lukat kannte den Trick, um die Türen zu öffnen.
Das tat er jetzt. Schnell löste er die Sperre, öffnete die Tür und sprang auf den Steg hinaus. Sorgfältig verriegelte er die Tür hinter sich und entriegelte die Tür des anderen Zuges. Ein kleiner Schritt nach oben – und schon stand er im letzten Waggon des IR, der im selben Moment abfuhr.
Geschafft! Das war knapp!
Doch als sich Lukat umsah, stockte ihm beinahe der Atem. Das Abteil war lediglich mit zwei brennenden Kerzen beleuchtet, die auf einem kleinen Tisch an der Querwand standen. Daneben hatten sich zwei dunkel gekleidete Männer von ihren Sitzen erhoben und starrten ihn erschrocken an. Der uniformähnlichen Kleidung nach, waren es vermutlich Sargträger, denn in der Mitte des kleinen Abteils stand ein Sarg. Das war richtig unheimlich.
Lukat erinnerte sich, dass die Bahn mitunter auch Leichentransporte in besonderen Abteilen durchführte. Das war von außen nicht zu erkennen. Man wollte ja die übrigen Reisenden nicht unnötig erschrecken. In der Trennwand zum Rest des Wagens befand sich deshalb auch eine verschlossene Tür, die nur mit einem Spezialschlüssel geöffnet werden konnte.
In einem solchen Abteil war Lukat nun dummerweise gelandet, und es war nicht feststellbar, ob er selbst oder die Sargbegleiter erschrockener darüber waren.
Lukat fasst sich schnell.
„Guten Morgen, die Herren!“, grüßte er verlegen. „Ich wusste nicht … Tut mir leid, dass ich so hereingeplatzt bin.“
„Guten Morgen!“, grüßte der kleinere der beiden. Er trug eine Schirmmütze und legte einen Finger an den Schirm, bevor er sie abnahm und unter den Arm klemmte.
Der Größere starrte Lukat mit Glubschaugen an und sagte gar nichts. Er hatte eine Glatze – seine Mütze lag bereits auf dem Tisch.
„Mein Beileid!“, begann Lukat erneut.
„Da sind Sie bei uns an der falschen Adresse!“, wehrte der Kleinere ab. „Wir sind nur die Begleiter. Wir überführen den Verblichenen lediglich. Aber wie kommen Sie denn hier rein? Man hat uns versprochen, dass die Ruhe des Verstorbenen nicht gestört wird.“
„Das war ein Versehen!“ gab Lukat zu. „Ich ahnte ja nicht, dass hier eine Leiche transportiert wird.“
„Gehören Sie zum Bahnpersonal?“, fragte jetzt der Glatzkopf. Er hatte einen seltsam lauernden Gesichtsausdruck.
„Nicht mehr – ich war mal Lokomotivführer. Da kenn ich mich aus!“, erklärte Lukat.
„Aha“, überlegte der Kleine. „Dann verschwinden Sie einfach wieder!“
„Kein Problem!“, nickte Lukat. Er verspürte ebenfalls den Wunsch, diese unheimliche Stätte zu verlassen. „Beim nächsten Halt steige ich aus!“
„Es wäre uns aber lieber, Sie verschwinden sofort!“, fauchte der Glatzkopf jetzt giftig.
Nanu? Was war denn in den gefahren?, überlegte Lukat, doch dann ging er bereitwillig zu der Zwischentür und probierte, ob sie sich öffnen ließ.
Dazu war aber ein Schlüssel erforderlich, den er nicht besaß.
„Dann muss ich eben warten!“, gab er resigniert zu. Was sollte schon passieren?
Unschlüssig blieb er an der Tür stehen. Es gab nur zwei Stühle in dem Abteil, die – ebenso wie der Tisch – mit dem Boden verschraubt waren. Dort saßen die beiden Sargträger und schauten ihn an. Es blieb ihm nichts weiter übrig, als stehen zu bleiben.
Wann würde der Zug das erste Mal halten?
Er holte sein Tablet aus der Umhängetasche und schaute nach. Merkwürdigerweise fand er den Zug nicht, in dem er sich befand. Normalerweise hätte er mit einem einzigen Blick den Zug und sein Punkteguthaben ablesen können.
Nach der Anzeige befand er sich jedoch noch auf dem Bahnhof Hannover – mit einem Guthaben von 20 Punkten. Warum wurde der Zugwechsel nicht angezeigt?
Im DB-Rechenzentrum Hannover wurde ein IT-Controller auf die rote LED-Warnanzeige aufmerksam. Eigentlich hätte er schon früher den Signalton hören müssen, doch diesen hatte er abgeschaltet. Die ständige Piepserei ging ihm auf die Nerven. So fiel ihm der Alarm erst 11 Minuten später auf. Er öffnete einen Monitor, der ihm den Grund des Alarms anzeigte: In den SSE (Super-Schnell-Express) nach Mailand war eine unbefugte Person in einen gesperrten Bereich eingedrungen. Als er sah, um wen es sich handelte, griff er zum Telefon und rief den Fahrdienstleiter an.
„Hallo Ben“, erzählte er. „Der Umsteiger ist mal wieder unterwegs!“
„Hallo Kurt! Du meinst den alten Lukat?“, fragte Ben zurück. „Der ist doch jeden Tag unterwegs und sammelt Verspätungen!“ Fast alle Kollegen im Umkreis von Hannover wussten von Lukats außergewöhnlichem Hobby.
„Ja, aber diesmal sitzt er im SSE nach Mailand“, ergänzte der Controller. „Da bekommt er doch unmöglich Punkte! Der Zug hatte noch nie Verspätung! Es sei denn …“
„Was willst du damit andeuten?“, fragte Ben zurück.
Читать дальше