Etwas stromabwärts unterhalb des Wasserfalls Arbu war das tobende Geräusch der fallenden Wassermassen ein wenig gedämpfter. Hinter einem Hügel beruhigte sich der Strom und formte ein Becken im Geröll, um sich dann, nur zwanzig Schritte weiter, wieder mit voller Wucht hinunter ins Tal zu ergießen. Ein erfahrener Sonntagsfischer, so wie Josef einer war, erkannte diese Stelle sofort als eine von Forellen bevorzugte Ecke.
Es konnte gegen zehn Uhr sein, als er am Ufer gegenüber dem Hügel ankam und wo er sich im Geröll niederließ. Er rollte die Ärmel hoch und konzentrierte seine Blicke auf die mehr oder weniger ruhige Wasseroberfläche. Plötzlich hielt er den Atem an, eine stattliche Forelle bewegte sich auf in zu. In diesem Moment der höchsten Anspannung bemerkte er einen Schatten, der sich neben ihm abhob. „Scht!“ Macht er leise ohne sich abzuwenden. „Die hohl ich mir“. Pfeilschnell griff er mit beiden Armen ins eiskalte Wasser und hob eine fast zwei Pfund schwere Forelle hervor. Immer noch auf den sich kraftvoll weidenden Fisch zu fixieren und ohne sich seinem vermutlichen Zuschauer zu zuwenden, sagte er: „Ist das nicht ein Prachtstück?“
Als er darauf immer noch keine Antwort bekam, drehte er sich schließlich um und zeigte stolz seinen Fang. „Nah! Was meint Ih …?“, doch das Ende seiner Frage blieb ihm vor Schrecken im Halse stecken. Er hatte plötzlich das Gefühl, das der Schopf unter seinem Hut aufrecht stünde. Nur einige Schritte hinter ihm sah er seinen Bewunderer: Ein ausgewachsener Bär saß da und beobachtete ihn ruhig mit gewissen Interessen. Josef nahm sich nur die Zeit seinen Hut festzuhalten, und schnellstens die Flucht zu ergreifen. Seinen Fang ließ er seinem Zuschauer als Geschenk zurück.
In diesem Jahr erreichten Josef und Sylvain die Hochweiden von Soulcem ende Mai. Die Schäden in und um ihr Lager waren wie im vergangenen Jahr nicht besonders groß. In wenigen Tagen war wieder alles hergerichtet und ihr gewohntes Dasein konnte von vorn seinen Lauf nehmen.
Selbst wenn die Umgebung, das Orrys, der Wald und der Pfad die Josef nun wieder fast täglich beschritt, der Felsblock und das Bächlein, ihn immer wieder an Bloundino erinnerten. Er sich in Gedanken damit abgefunden, dass diese Episode seines Lebens endgültig abgeschlossen war.
Eines Tages dann, kaum eine Woche, nachdem sie dort oben angekommen waren, als er aus dem Tal zurückkehrte, hielt er plötzlich inne. Er glaubte, er war sich sogar sicher, dass er seinen Namen gehört hatte. „Bin ich von Sinnen?“ schoss es ihm blitzartig durch den Kopf. Diese Stimme … er hätte sie unter zehntausend erkannt. Er hatte nicht die Zeit dazu, weiter nachzudenken, noch sich in die Richtung zu wenden, aus der man ihn angesprochen hatte, als er hörte:
„Du bist zurückgekommen Josef, ich habe auf dich gewartet.“
Dann sah er sie. Sie saß ruhig auf einem großen Stein am Rande des Pfades, einige Schritte mehr und er wäre an ihr vorbeigegangen. „Aber das ist unmöglich …“, dachte er und sprang regelrecht zwei Schritte rückwärts. „Sie ist tot ...! Das kann nur ihr Geist sein!“ Er wusste nicht, was er noch denken sollte. Dann kam ihm der Gedanke an das, was Einige sagten, diejenigen die behaupteten Gespenster gesehen zu haben: Diese Gestalten sollen transparent sein und man konnte sie nicht berühren. Doch er stellte fest, dass er nicht durch die Bloundino hindurchsehen konnte. Verwirrt stammelte er:
„Bist …, bist du es wirklich Bloundino?“
Sie stand auf und näherte sich, indem sie ihm die Hand reichte. Er zitterte am ganzen Körper wie eine Pappel, und doch unternahm er, wenn auch zögernd, das Experiment der Greifbarkeit: Es war kein Spektrum.
„Erkennst du mich nicht, Josef? Du nanntest mich Bloundino.“
„Du lebst!“ Schrie Josef und ein paar dicke Tränen rollten über seine Wangen.
Das Abenteuer des jungen Hirten schien nun wieder dort weiter zu gehen, dort wo es durch den Winter unterbrochen wurde. Doch Josef bemerkte bald, dass es nie mehr so sein würde wie im vergangenen Sommer.
Fast zwei Wochen lang kam Bloundino noch regelmäßig. Sie aß, schlief, ging mit Josef zum Fischen an den Wildbach. Rannte mit Rex um die Wette beim Einholen der Herde. Genau so, wie man es im letzten Jahr gewohnt war.
Die beiden Brüder konnten sich nicht erklären wie und wo die Bloundino den Winter überlebt hatte. Sie fanden nur eine Erklärung: Es war ein Wunder!
Als die Bloundino sich im vergangenen Herbst mehr und mehr vom Sommerquartier der Brüder Barona fernhielt, war das nicht etwa um die, die ihre Freunde geworden waren zu verlassen. Es war auch nicht die Angst, dass man sie mit Gewalt ins Dorf schleppen könnte. Es war ihr wilder Instinkt, welcher, wenn auch verdrängt, immer noch in unserem Unterbewusstsein schlummert. Ihr Überlebenskampf, wahrscheinlich viele Jahre hindurch, in und mit der Natur, hatte dazu geführt, dass dieser Instinkt wieder das Vorrecht auf ihr Verhalten und ihre Lebensweise errungen hatte. So wie die Eichhörnchen, die Hamster und alle anderen Tiere des Waldes und der Berge, zwang diese Kraft auch Bloundino eine sichere Unterkunft und Vorräte zu sammeln.
Knapp eine Meile von Sylvain und Josef entfernt, dort wo in den Bergen nur noch vereinzelte Büsche sprießen, hatte Bloundino schon seit ein paar Jahren eine Grotte bezogen. Eine dieser Höhlen mit niedrigem Zugang; eine von denen die weit in den Felsen hinein führen. Dort wo die Temperatur immer, ob Sommer oder Winter, konstant bleibt. Bloundinos Beschäftigung war erheblich in den Herbstmonaten und rechtfertigte ihre Abwesenheit. Handvoll um Handvoll transportierte sie die Ernte in ihre Behausung: Kastanien, Nüsse, Eicheln, Tannenzapfen und Wurzeln aller Art. Auch ihre Liege musste erneuert werden mit Gräsern, Moosen und trockenen Blättern.
Die Gesetze der Natur können erbarmungslos scheinen, jedoch wer sie kennt und respektiert, findet Hilfe und Geborgenheit.
Wie gewöhnlich war Bloundino mit Josef ins Lager zurückgekehrt. Sie hatte am Tümpel auf ihn gewartet und sie hatten dann den Rest des Weges miteinander zurückgelegt. Sie blieb bis zum Abend, und nach dem man gegessen hatte, begann sie unerwartet mit einer langen Erklärung. Sie sprach in Französisch über etwas, was die beiden nicht recht definieren konnten. Dann stand sie auf und ging von dannen.
„Ich habe nichts verstanden.“ Sagte Josef.
„Um ehrlich zu sein, ich auch nicht. Nur glaube ich, dass sie von Bergen gesprochen hat.“
„Von Bergen? Das könnte sein.“
„Da bin ich mir fast sicher. Aber was den Rest angeht …“
Am nächsten Tag war Bloundino nicht am Bächlein und sie kam auch nicht zum Abendessen am Orrys. Scheinbar hatte sie das Weite gesucht. Josef hatte schon den Verdacht, dass ihre Abwesenheit etwas mit ihrem unverstandenen Vortrag vom Vorabend zu tun hatte. Und so war es.
Sie hatte den Endschluss gefasst weiter nach Osten, die Wälder und Berge in der Umgebung des Tales von Artigue auszukundschaften. Es sollte kein endgültiger Abschied sein, was Josef aber nicht verstanden hatte. Sie hatte versprochen, bald wiederzukommen.
Nachdem sie mehrere Geröllhalden und andere schwierige Passagen hinter sich gebracht hatte, erreichte sie den Wildbach, der auch den Namen Artigue trägt. Die Wälder, nichts konnte schöner für Bloundino sein als diese Stille, die Schatten abwechselnd mit hellen Lichtungen und Aussicht auf grüne Wiesen und den Wildbach. Hier und da, am Rande des Stromes, fielen kleine Bächlein von Stein zu Stein inmitten hoher Gräser; kleine Sümpfe; einige erratische Felsblöcke, überzogen mit hellgrünen Moosen. In diesem Tal weideten auch Vieherden, welche sie von Weitem durch das Schilf hindurchsehen konnte, und Hüter, die in Orrys hausten, ähnlich wie Josef und Sylvain. Von weiter entfernt vernahm sie Axt Schläge. So wusste sie, dass auch Holzfäller in der Gegend arbeiteten.
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