„Ganz ruhig Rex.“ Sagte Josef leise. „Du weckst Sylvain! Keine Aufregung, es ist nichts.“
Er hielt Rex am Halsband und begab sich nach draußen. Es war keine stockdüstere Nacht, es war knapp Halbmond und der Himmel war wolkenlos. Neben dem Käse-Orrys löste sich im Halbdunkel, für jeden normal Sterblichen, eine beunruhigende Silhouette, doch Josef erkannte sofort die Statur der Bloundino. Für ihn war diese düstere Erscheinung eher ein freudiges Ereignis, sie hatte sich endlich entschieden bis zu ihm zu gekommen.
Von diesem Tag an kam sie regelmäßig fast jede Nacht. Manchmal blieb sie sogar bis zum Morgen, solange bis Josef sich auf den Weg ins Tal aufmachte.
Sylvain war nicht besonders erfreut über dieses bizarre Verhältnis seines kleinen Bruders, aber er war auch nicht mehr strikt dagegen. Schließlich war es ja mehr oder weniger seine Schuld, er hatte sich ja vom Geschwätz der Rotznase einwickeln lassen. Er konnte nur immer noch nicht verstehen, wie und wo der Springinsfeld, den Mut gefunden hatte, sich dieser Frau zu nähern, geschweige denn Freundschaft zu schließen. Allein schon ihr Aussehen hätte nicht nur den Unmutigsten in die Flucht geschlagen. Er war davon überzeugt, dass der Junge instinktiv handelte und das Ganze aus einem anderen Blickwinkel betrachtete. Er konnte es nicht fassen, dass sein kleiner Bruder sich in den letzten Wochen so verändert hatte. Er war voller Verwunderung, sie war nicht mehr die Bloundino, sie war seine Bloundino. Manchmal, wenn er seine wichtigen Arbeiten verrichtet hatte, verbrachte er die Zeit ihr ungewöhnlich üppiges Haar von Blättern und trockenen Zweigen Reste zu säubern. Sie lies ihn geduldig in ihrer Mähne herum zupfen. Er konnte machen, was er wollte, besser gesagt, fast, denn was er auch unternahm, es gelang im nicht, sie an irgendwelche Kleidung zu gewöhnen. Sie lies sich ausstaffieren, doch sobald das Spiel zu Ende war, zog sie eiligst alles wieder aus.
Bloundino war inzwischen gleichermaßen eine Mitbewohnerin der Sommerresidenz der Brüder Barona geworden, jedoch sie blieb unabhängig. Sie kam und ging, manchmal blieb sie bis weit in die nächste Nacht hinein und am Tag danach verweilte sie vielleicht nur eine Stunde. Sie sprach nur wenig, wenn, dann meistens nur mit Josef. Während er tagsüber seinen Beschäftigungen nachging, schlief sie oft zusammengekauert in einer Ecke. Doch wenn er Hilfe benötigte um einen schweren Stein, einen Stamm oder Klotz zu verlagern, fasste Bloundino heftig zu. Diese Frau war zwar vom Aussehen her schon ein einziges Muskelpaket, doch selbst Sylvain war verblüfft zu sehen, welche Kräfte sie entfesseln konnte. Wenn die böswillig würde, dachte Sylvain, dann würden wohl der Kleine, sogar wir beide den Kürzeren ziehen.
Von Zeit zu Zeit empfand Josef Lust das Abendbrot ein wenig zu verfeinern, dann ging er hinab an den Wildbach und versuchte eine oder zwei schöne Bachforellen zu fangen. Als die Bloundino ihn zum ersten Male begleitete, versuchte er ihr zu erklären, wie man sich anstellen sollte, um Fische mit bloßer Hand zu ergreifen. Doch sehr bald musste er sich eingestehen, dass Bloundino einen weit besseren Meister gekannt haben musste, als er es war. Ihre Fangmethode war die der Bären: zunächst wählte sie eine Stelle nach ihren eigenen Kriterien, beobachtete kurze Zeit den Grund und dann plötzlich, kam der kraftvolle „Prankenhieb". Nur äußerst selten entkam Ihr ein Fisch. Josef beobachtete sie verblüfft, er traute seinen Augen kaum. Wie konnte sie bloß bis zu den Hüften in das eiskalte Wasser, und dann noch mit einer unglaublichen Geschicklichkeit einen Fisch treffen. Das Wasser in diesen Bächen ist kaum mehr denn geschmolzener Schnee. Er hatte oft genug, seine Hand hinein getaucht um es zu wissen. Wie viele Jahre Bloundino abseits jeglicher Zivilisation benötigt hatte, um sich so eng mit der Natur zu verbinden, war für ihn, und später für viele, unvorstellbar. Nun war ihr Leben so gestaltet, natürlich, mit ihren Gesten und ihrem Verhalten alles das, was sie von den Tieren gelernt hatte.
Diese seltsame Situation, diese Frau, die keine Regel der Zivilisation beherrschte, neben welcher sein „kleiner“ Bruder, fast das Aussehen eines Säuglings hatte, beunruhigte Sylvain doch immer noch.
„Findest du sie nicht schön?“ Fragte Josef, indem er Bloundinos Haarpracht auf verschiedene Art seinem Bruder vorzeigte.
„Wenn du es sagst. Wenn Vater und Mutter dich sehen, könnten mit dein …, was soll’s? Dann Gnade dir …, was sage ich, dann Gnade uns beiden, ich bekäme wahrscheinlich genau so viel wie du. Wie konnte ich mich bloß in dieses Abenteuer hinein ziehen lassen? Wenn ich dir einen guten Rat geben kann, dann lasse sie endlich mal in Ruhe. Eines Tages hat sie die Nase voll von deinen Schikanen, und dann langt sie dir eine …, mein lieber Mann …, aber eine saftige!
„Was denkst du denn nun wieder?“
„Ja, ja …, mach ruhig weiter so, du könntest dich eine Zeit lang daran erinnern.“
„Warum denn? Ich tu ihr doch nichts.“
„Ich weiß …, ich weiß, ich habe ja sowieso nie recht. Sollte etwas passieren, dann bringst du deinen Mist aber auch wieder alleine in Ordnung!“
Sylvain stellte sich immer wieder die Frage, wer, oder was, diese Kreatur wohl sein könnte. War es nun eine Frau, die sich in ein Tier, oder ein Tier, das sich in eine Frau verwandelt hatte? Ihre Gebärden und der wilde Duft, den sie hinterließ, waren eher die eines Tieres, man konnte es anders nicht ausdrücken. Ihr Aussehen jedoch, ihre Intelligenz und ihre Gefühle waren zweifellos die einer Frau. Vielleicht vernünftig hergerichtet, achte Sylvain, könnte sie sogar eine sehr schöne Frau sein. Es wäre ja möglich dass Josef, so hingerissen, wie er war, die wirkliche Schönheit der Bloundino sehen konnte.
Die beiden vergangenen Jahre waren das erste und zweite Mal, das Josef mit seinem Bruder im Soulcem den Sommer verbracht hatte. Jedes Mal hatte er die Monate unendlich lang empfunden, doch in diesem Jahr war für ihn die Zeit im Fluge vergangen. Während sich nun der Herbst mehr und mehr bemerkbar machte, blieb auch die Bloundino länger und länger abwesend. Die beiden Brüder grübelten drüber nach, womit ihre Mitbewohnerin wohl in dieser Zeit beschäftigt sein könnte. Jedes Mal wenn sie noch für eine oder zwei Stunden vorbei schaute, nahm sie eine Kartoffel, einen Apfel oder sonstiges Essbares mit sich und verschwand dann wieder.
Josefs Bemühungen waren vergebens. Sein Traum schien endgültig den Bach hinunter zu gehen. Er war sich nun bewusst, dass seine Bloundino nicht mit ihm den Winter verbringen würde, und seine fröhliche Stimmung, begann sich zu verfinstern.
Dann kam der Tag, an dem der erste Schnee in den höheren Lagen fiel. Die Zeit war für die Hirten gekommen mit ihren Herden den Abstieg zu beginnen; ihre Orrys und die Hochweiden zu verlassen. So wie man im Frühling nach und nach hochgestiegen war, so ging es nun von Tag zu Tag auf tiefer gelegene Weideplätze wieder hinunter ins Tal.
Die Bloundino folgte noch ein paar Tage der Herde der beiden Brüder, doch als dann auch, andere Herden sich näherten, verschwand sie eines Morgens und kam nicht mehr zurück.
Josef fiel in eine tiefe Trübsal, alles um ihn herum stürzte in sich zusammen, er konnte es nicht verstehen. Warum nur? Sein schöner Traum verwandelte sich plötzlich in einen schrecklichen Albtraum. Er hatte doch alles versucht und getan um seine Bloundino vor dem sicheren Tode zu bewahren. Jeden Tag lief er noch wie ein Brennender kreuz und quer durch die Wälder und rief, doch die Bloundino war verschwunden. Die Wölfe, die Bären, die Kälte, der Schnee und der Hunger …, Josef wusste, dass seine Bloundino bald sterben würde. Niemand konnte ohne Kleidung, ohne Feuer und ohne Nahrung dort oben überleben …, es war einfach unmöglich.
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