Nach dieser Unterhaltung begab sich Josef nun wieder auf den Weg zurück in die Berge. Seine Gedanken waren voll beschäftigt mit neuen Ideen und er hatte, an diesem Nachmittag, nicht einen Augenblick mehr an diese Frau gedacht. Diese Geschichte schien nun endgültig der Vergangenheit anzugehören. Manchmal dachte er noch daran, aber immer weniger. Doch dann plötzlich, in einem Moment, indem er überhaupt nicht daran dachte, als er an einem Busch vorbei schritt, wurde er brutal aus seinen Gedanken gerissen. Sie war da, nur einige Schritte von ihm entfernt. Sie war unter einem hervor stehenden Felsen gebeugt und erfrischte sich. Josef konnte sie nur den Moment eines erschrockenen Blickes sehen, denn mit einem Sprung verschwand sie im Unterholz.
Josef hatte nun die Gewissheit, dass er nicht geträumt hatte und das die Frau sich immer noch in der Gegend aufhielt. Es war also doch noch nicht alles vorbei. In seinen Gedanken begann schon sein Zaun zu zerfallen, bevor er noch nicht einmal begonnen hatte, ihn aufzubauen.
Sie schien so scheu wie ein wildes Reh. Er müsste, so dachte er, mit äußerster Vorsicht und Geduld vorgehen, um vielleicht ihr Vertrauen zu gewinnen. In wenigen Augenblicken hatte er einen Plan. Schon an diesem Nachmittag machte er sich die Mühe bis hinauf zu dem Felsen zu klettern, wo er sie zum ersten Mahle gesehen hatte. Er brauchte nicht lange zu überlegen. Die frischen Fußabtritte im feuchten Lehm, am Rande des Bächleins, verrieten ihm das die Frau mit ihren bloßen Füßen vielleicht noch am selben Tag dort gewesen sein musste. Aus den Fährten, mehr oder weniger deutlich, die er dort lesen konnte, zog er die Gewissheit, dass sie sich regelmäßig an diesem Ort aufhielt. Zu welchem Zeitpunkt des Tages musste er nun noch herausfinden. Jedenfalls hatte er sie am Nachmittag in der ganzen Zeit nicht mehr dort gesehen.
In dem Moment, als er seinen Weg fortsetzen wollte, kam ihm die Idee: Warum nicht jetzt schon etwas Nahrung auf dem Felsen zurückzulassen. Es wäre ja möglich, dass sie noch später am Nachmittag dorthin käme. Gedacht getan, er legte kurzerhand etwas Brot und Käse auf den Felsen und ging dann seines Weges. Er beschloss niemanden von seiner neuen Begegnung zu erzählen, sogar sein Bruder dürfte vorerst nichts erfahren.
Am nächsten Morgen hatte er Eile das Resultat seines Experimentes zu erfahren. Schon von Weitem stellte er fest, dass Brot und Käse verschwunden waren. Nach Kurzem überlegen musste er sich eingestehen, dass es bei Weitem nicht sicher war, wer die Nahrung verschlungen hatte. Doch Josef lies sich nicht so leicht enttäuschen. Jedes Mal wenn er vorbeikam, legte er etwas Nahrung auf den Felsen, und jedes Mal war alles verschwunden. Doch die Frau sah er nie.
Schließlich hatte er dieses unsichere Spielchen satt und beschloss mit List vorzugehen. Am ersten Tag, nachdem er am Vormittag Brot und Käse ausgelegt hatte, verkroch er sich in seinem Versteck unweit des Felsens. Er verblieb, solange es ihm möglich war, ohne dass er zu spät mit seiner Lieferung zu Hause ankam. Am nächsten Tag ging er gleichermaßen vor, nur am Nachmittag.
Josef war außer sich, alle seine Versuche scheiterten. Doch womit er nicht gerechnet hatte, war: Diejenige, auf die er es abgesehen hatte, war genau so schlau wie er selbst, wenn nicht sogar noch aufgeweckter. Seit einigen Tagen bereits kannte sie alle seine Bewegungen und Zeiten seiner Anwesenheit. Wehrend er in seinem Versteck den Felsbrocken ununterbrochen anstarrte wurde der Beobachter ohne es zu bemerken zum Beobachteten. Er hatte nicht die geringste Ahnung, dass nur einige Meter genau über ihm, ein Paar neugierige Augen alle seine Gesten genau verfolgten. Nur wenige Augenblicke, nachdem er gegangen war, waren auch seine Gaben vom Felsen verschwanden.
Er war vielleicht erst ein Lausbub, aber er war schon genauso hartnäckig wie ein ausgewachsener „Mountagnol" und dachte eine Art Mitteilung könnte eine bessere Lösung sein. Dann wieder, dachte er, wen sie wirklich eine wilde Frau war, dann könnte sie ja wahrscheinlich nicht lesen, oder gar seine Sprache nicht verstehen. Außerdem konnte er gar nicht schreiben. Er fand allerdings das die Idee an sich, eine der Besten war, die ihm je eingefallen war. Nach einigem Grübeln fand er die Lösung. Er würde ganz einfach ein paar Blumen zu der Nahrung legen, so brauchte er nicht zu schreiben, und sie nicht zu lesen. Gleichzeitig würde er feststellen, ob es ein Mensch oder ein Tier war. Denn ein Tier, so meinte er, würde die Blumen nicht anrühren.
Am nächsten Morgen, sobald er sich ins Tal aufmachte, begann er damit einige Blumen zu pflücken. Er achtete darauf möglichst Verschiedene und, seines Erachtens nach, die Schönsten zu finden. Mit einigen Grashalmen band er einen kleinen Strauss und legte diesen mit etwas Nahrung auf den gewohnten Stein. Dann setzte er seinen Weg ins Tal fort, um doch seine Aufgabe pünktlich zu erledigen. Die Butter und die Milch in seinem Korb konnten nicht warten.
Nur knappe drei Stunden später war Josef wieder am kleinen Teich angekommen. Er hatte den Felsen, der noch etwas höher im Wald lag, noch nicht erreicht, sah er schon von Weitem, dass die Nahrung und auch die Blumen verschwunden waren. Nachdem er sich vergewissert hatte das die Blumen nicht, vielleicht von einem Tier verstreut herum lagen, war er überzeugt. Es war die Frau, die immer wieder seine Gaben zu sich genommen hatte. Doch als er damit beschäftigt war die Ration Nahrung zu erneuern, überfiel ihn plötzlich ein unglaubliches Angstgefühl. Seine Gedanken erfüllten sich schlagartig mit Visionen des Grauens. Zu keinem Zeitpunkt hatte er bis jetzt daran gedacht, dass diese Kreatur, die er nur bewundert hatte, für ihn gefährlich werden könnte. Urplötzlich glaubte er zu sehen, wie sie aus dem Gebüsch hervor sprang und sich auf ihn stürzte. In panischer Angst begann er, zu laufen. Ohne sich auch nur ein Mal umzudrehen, lief er bis zum Rande des Waldes und noch weiter hinaus, bis er sich erschöpft und außer Atem ins Gras fallen lies.
Jedoch seine Leidenschaft und seine guten Gedanken gewannen rasch wieder die Oberhand. Denn, überlegte er, wenn sie die Absicht hätte, mich zu töten, dann hätte sie es seit Langem getan. Sie hätte mich zu jeder Zeit überfallen können.
An diesem Abend war es Josef nicht möglich den Konflikt, der in ihm wütete, vor seinem Bruder zu verbergen.
„Schon wieder ein Bär?“, fragte Sylvain mit einem ironischen Grinsen.
„Du hast mir nicht geglaubt … oder?“
„Ehrlich gesagt ..., kein Wort.“
Sylvain war davon überzeugt, dass dieses merkwürdige Etwas war, was es auch sein mochte, mit seinen Höhen und Tiefen, das seinen jungen Bruder seit Wochen in Aufregung hielt. Vielleicht steckte ja auch nur eine junge Freundin hinter der ganzen Geschichte. Nun wollte er endlich Klarheit schaffen.
„Wenn wir mal in Ruhe über dein Problem sprechen würden … ganz unter uns? Schließlich bin ich dein Bruder. Ich bin doch schon einige Jahre älter als du und habe auch schon vieles erlebt. Ich könnte dir vielleicht einige Ratschläge geben. Was meinst du?“
„Ich möchte nicht darüber reden.“
„Du machst einen Fehler, kleiner Bruder. Sprechen wir darüber. Du kannst mir vertrauen, ich werde niemanden etwas davon sagen, es bleibt alles unter uns. Ich glaube nicht, dass ich dich schon einmal verraten habe …“
„Ja ich weiß, aber dieses Mal ist es nicht dasselbe. Ich kann nicht mit dir darüber reden, nicht mit dir und nicht mit jemand anderen.“
„Ist es denn wirklich so ernst?“
„Nein, es ist nicht, dass es so schlimm wäre, nur es ist ein Geheimnis. Nein, ich werde schon selbst damit fertig werden.“
„Gut, wenn du meinst, dann sorge, dass du selbst damit fertig wirst. Aber … sag mir wenigstens, ob sie hübsch ist.“
„Von wem sprichst du?“
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