Luves betrat die Halle der Versammlung. Seine Schritte hallten über den hellen, glänzenden Marmorboden und wurden von den Säulen, die den Saal zu beiden Seiten säumten, zurückgeworfen. Zwischen ihnen befanden sich große Feuerschalen, die Licht spendeten. Er hielt inne und sah sich suchend um. Offenbar war er alleine. Nur ein Windhauch wisperte durch die Öffnungen der Belüftungsschächte, die den fensterlosen Raum mit Luft versorgten. Er ging auf ein Pentagramm zu, das im hinteren Drittel mit schwarzem Stein in den Boden eingelassen war. Luves trat hindurch und spürte, wie die Luft um ihn wie in einem Wirbel in Bewegung geriet, als seine Kräfte die des Pentagramms berührten. Der magische Kreis, den das Symbol bildete, schloss sich um ihn, versiegelte seine Kräfte, so dass er sie nicht nach außen wirken konnte. Er kniete sich auf den Boden nieder und neigte den Kopf, bis seine Stirn den Stein berührte. Bewegungslos verharrte er in dieser Position und wartete ab. Seine eigenen Kräfte rebellierten gegen die Beschränkung. Übelkeit und ein Anflug von Panik stiegen in ihm auf. Die Magie schien aus seinem Körper zu fließen, um in dem Stein unter ihm zu versickern. Kalter Schweiß bildete sich in seinem Nacken und er schluckte schwer. Er konzentrierte sich auf den kühlen Marmor unter sich und ließ seine Atemzüge flacher werden. Bedächtig atmete er ein und aus, spürte die Dehnung seines Brustkorbes, die Kühle in seinem Nacken, als ein leichter Luftzug ihn streifte. Langsam beruhigte sich sein Magen. Er versuchte sich zu entspannen, soweit es in dieser Haltung überhaupt möglich war.
Um sich abzulenken, dachte er über eine Frage nach, die er bisher gemieden hatte: Warum hatte der Rat ihn hierher bestellt? Die Gründe dafür konnten vielfältig sein. Die neun Veteres bestellten immer wieder einzelne Anwärter zu sich, um sie für herausragende Leistungen zu belohnen oder sie für Verfehlungen zu bestrafen. Er selbst trieb sich nicht in den verrufenen Vierteln herum oder suchte Streit mit anderen Anwärtern. Auch seinen Ausbildern gegenüber verhielt er sich in angemessener Weise. Nie hatte er gegen sie aufbegehrt. Er war ein pflichtbewusster, fleißiger Schüler, stach jedoch nicht durch besonders ausgeprägte Fähigkeiten hervor. Seine Talente in der Beherrschung der Urgewalten blieben mittelmäßig, egal wie hart er an sich arbeitete. Er studierte die Zaubersprüche so eifrig wie kein anderer Anwärter seines Alters, doch die Kräfte, die er damit freisetzte, lernte er nur mühsam zu kontrollieren. Auch bei der Herstellung magischer Gegenstände erwies er sich als wenig geschickt. Seine Zauber pflegten sich zu verflüchtigen, noch bevor er sie an einen Gegenstand zu binden vermochte. Damit brachte er seine Ausbilder in diesen Bereichen der Magie beinahe zur Verzweiflung. Dies war schon bitter genug für ihn, vor allem, da sein Ehrgeiz seit seiner Kindheit ungebrochen war. Nur durch seine Beharrlichkeit war es ihm bisher gelungen, alle erforderlichen Prüfungen zu meistern. Wobei immer noch ein Quäntchen Glück dazugehört hatte. Luves wusste darum und dankte den Mächten bei jedem abendlichen Gebet dafür, dass sie ihm derart gnädig gestimmt waren. Eines Tages würde er einen passablen Jäger abgeben. Doch es würden sicherlich noch einige Jahre vergehen, bis man ihn in die Welt aussandte, um dort Aufträge zu erfüllen.
Das Geräusch leiser Schritte riss ihn aus seinen Gedanken. Er wollte automatisch den Kopf heben, unterließ es jedoch im letzten Moment. Er durfte sich erst aus seiner unbequemen Position erheben, wenn die Veteres ihn dazu aufforderten. Alles andere stellte eine Respektlosigkeit ihnen gegenüber dar und Luves wollte sie auf keinen Fall provozieren. Es handelte sich um mehrere Personen, zumindest glaubte er, dies anhand der unterschiedlichen Geräusche zu erahnen. Sie bewegten sich am Pentagramm vorbei und schienen sich vor ihm aufzustellen.
»Wir grüßen dich, Anwärter Luves«, hörte er einen der Ältesten sagen.
»Seid gegrüßt, ehrenwerte Veteres«, erwiderte er die Begrüßungsfloskel.
»Möge die Urgewalt der Elemente dir stets dienlich sein, Anwärter Luves.«
»Möge die Urgewalt stets an der Seite der ehrenwerten Veteres sein und unser Land beschützen.«
Die Tatsache, dass er die Stimmen der Ratsmitglieder hörte, aber nicht sah, um wen es sich dabei handelte, gab der Szenerie etwas Unwirkliches. Ihm war unwohl dabei, dass die Magier auf ihn herabblickten. Sie beobachteten jede seiner Regungen, während er nicht einmal die Säume ihrer Umhänge erkennen konnte.
»Dein Ausbilder, Meister Zudu, hat uns über deine Fortschritte informiert«, erklang eine zweite Stimme. »Du zeichnest dich durch Ehrgeiz, Folgsamkeit und Wissbegierde aus, obwohl der Umfang deiner Talente zu wünschen übrig lässt.«
»Ich bemühe mich nach Kräften …«, versuchte er sich zu verteidigen.
»Schweig!«, donnerte eine weitere Stimme über ihn hinweg und Luves zuckte erschrocken zusammen.
Hektisch schnappte er nach Luft und ein kalter Schauer rann über seinen Rücken. Die Energien innerhalb des Kreises luden sich auf, knisterten statisch. Er wagte es nicht, sich zu rühren, aus Furcht davor, von einer Entladung getroffen zu werden.
»Trotz deiner offensichtlichen Defizite ist der Rat der neun Veteres mit deiner Entwicklung zufrieden«, sprach der Magier, der zuerst gesprochen hatte.
Erleichtert atmete Luves auf und die Spannung in der Luft ließ merklich nach.
»Erhebe dich!«, wies ihn derjenige an, dessen Stimme ihn erschreckt hatte.
Umständlich richtete sich Luves auf, denn seine Glieder waren durch die unbequeme Haltung steif geworden. Vor ihm standen drei Mitglieder des Rates, somit ein Vertreter jeder einzelnen Gilde. Er vermied es, sie direkt anzusehen und heftete seinen Blick auf einen imaginären Punkt in der Luft knapp über ihren Köpfen.
»Sag uns, welche die oberste Aufgabe der Jäger ist.«
»Der Schutz von Aestra, seinen Bewohnern und der Magiergilden.«
»Welche ist deine Aufgabe als Anwärter?«
»Zu lernen und zu gehorchen.«
Die Veteres schwiegen und Luves befürchtete, die falsche Antwort gegeben zu haben, obwohl er diese Floskel bereits vor Jahren als Schüler gelernt hatte. Fieberhaft überlegte er, wie er die Situation noch retten konnte. Vor Aufregung zitterten ihm die Knie. Seine Kehle war wie ausgetrocknet. Gerade wollte er das Wort ergreifen, da kam ihm einer der Ältesten zuvor.
»Wir haben beschlossen, dir deinen ersten Auftrag zu erteilen. Erfülle ihn und du wirst als Jäger in die Gilde aufgenommen.«
Luves stockte der Atem und ein leichter Schwindel breitete sich in seinem Kopf aus. Er war erst achtzehn Jahre alt und sollte bereits die letzte Prüfung ablegen, die ihn davon trennte, ein vollwertiges Mitglied seiner Gilde zu werden. Normalerweise geschah dies nicht vor dem zwanzigsten Lebensjahr.
»Du wirst Meister Friebert begleiten, um ihm zu helfen, einen Faun aufzuspüren. Dieser hält sich nahe einem Dorf in der Ebene der Sommerfelder auf und geht dort seinen schändlichen Taten nach. Fangt diese Kreatur und bringt sie nach Cimala, damit ihr der Prozess gemacht werden kann. Seid ihr erfolgreich, hast du deine letzte Prüfung bestanden und die Bewohner dieses Landes vor einer großen Gefahr bewahrt«, fuhr der erste Sprecher fort. »Meister Friebert wird dir genaue Instruktionen erteilen.«
Mit einer Handbewegung deutete er auf einen weiteren Mann, der sich außerhalb von Luves' Sichtfeld befand, so dass er sich umwenden musste. Unter der dunklen Kapuze der großen Gestalt war lediglich die verbissene Miene und seine markante Hakennase zu erkennen. Mit unverhohlenem Missfallen sah der Magier ihn schweigend an und Luves nickte ihm zaghaft zu. Erneut zog sich sein Magen schmerzhaft zusammen und Unbehagen breitete sich in ihm aus.
Meister Friebert war ihm als ein langjähriges Mitglied seiner Gilde bekannt und man sagte ihm nach, ein unerbittlicher Jäger zu sein. Er war gewieft, überaus bewandert in der Anwendung von Zaubersprüchen und gefürchtet im Schwertkampf. Einen besseren Lehrer hätte Luves sich für seine erste Mission nicht wünschen können, wenn Friebert nicht ein mürrischer, wortkarger Einzelgänger gewesen wäre. Er begegnete den Schülern und Anwärtern der Gilde nur mit Abneigung und einem Spott, der ätzender Säure glich. Für seine Mission hätte Luves sich einen angenehmeren Begleiter gewünscht. Er schluckte schwer, bei der Aussicht mehrere Tage auf den Meister angewiesen zu sein.
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