Als er die staubige Landstraße erreichte, auf der sich die Karren noch immer in einer scheinbar unendlichen Karawane hintereinander reihten, hörte er eine Stimme, die lauthals seinen Namen rief. Er wandte sich um und entdeckte Toge, der seinen Umhang um sich raffte, damit er schneller laufen konnte. Keuchend rang er nach Luft, als er Luves erreichte.
»Hast du bei den Veteres vorgesprochen?«, japste Toge und sah ihn erwartungsvoll an.
»Allerdings«, erwiderte Luves grinsend. »Möchtest du raten, worum es ging?«
»Man hat dir eine Strafe wegen irgendeiner Nichtigkeit verpasst.«
»Nein. Du darfst noch einmal raten.«
»Hat man dir etwa einen Auftrag erteilt?«
»Ich habe mir gerade meine Ausrüstung zusammengestellt. Morgen breche ich auf.«
»Heiliger Trollmist! Das ist großartig. Endlich steht dir nichts mehr im Wege, zu den Jägern aufzusteigen. Was für ein Wesen sollst du fangen?«
»Es geht um einen Faun.«
Toge verzog das Gesicht und verdrehte die Augen.
»Ein Faun? Dass man dafür extra einen Jäger auf eine Mission schickt.«
»Nicht nur einen Jäger. Ich reise zusammen mit Meister Friebert.«
Toge erstarrte und seine Augen weiteten sich vor Schreck.
»Heilige Urgewalten! Da hast du wirklich das große Los gezogen. Für mich wäre es der reinste Albtraum. Lieber lasse ich mich von einer Horde Untoter jagen, als nur einen Tag mit diesem fürchterlichen Griesgram zu verbringen. Aber du wirst schon mit ihm fertig.«
Freundschaftlich klopfte er Luves auf die Schulter, während sie nebeneinander hergingen.
»Wohin werdet ihr reisen?«
»Zu den Sommerfeldern. Wir müssen schnell aufbrechen, bevor sich seine Spur verliert.«
»Du schaffst das schon. Ein Faun ist ja kein allzu gefährlicher Gegner. Ich wünschte, ich wäre schon so weit und könnte hinausziehen in die Welt.«
Sehnsüchtig seufzte Toge und blickte an den Fuhrwerken vorbei hinaus auf die Landschaft. Luves konnte ihm ansehen, dass er alles dafür gegeben hätte, um mit ihm zu tauschen.
Es war ein seltsames Gefühl, sich dem Gelände der Gilde der Jäger zu nähern. Toge ging neben ihm her und plapperte munter vor sich hin. Luves hörte nur halbherzig zu und nickte gelegentlich. Stattdessen blickte er auf die grauen Mauern, die die Gebäude und Anlagen von der Außenwelt abschirmten. Dahinter lag sein Heim und er fragte sich, ob er es vermissen würde. Der Wachposten öffnete ihnen das massive Holztor. Sie betraten den Innenhof, der erfüllt war von den Rufen der Schüler und Anwärter, die sich noch immer im Schwertkampf übten. Das helle Klirren der aufeinander treffenden Klingen stach ihm in die Ohren. Sie bewegten sich am Außenrand des Platzes entlang, um nicht zwischen die Kämpfenden zu geraten. Vielleicht würde es heute einem Schüler gelingen, einen Anwärter zu besiegen und so eine der Prüfungen zu absolvieren. Luves lächelte, als er daran dachte, wie er seinerzeit diese Aufgabe bewältigt hatte. Sein damaliger Gegner hatte nur für die Dauer eines Wimpernschlages seine Deckung vernachlässigt. Er dachte, Luves wäre erschöpft und würde sich jeden Moment ergeben. Doch Luves hatte ihn überlistet. Er hatte dafür gesorgt, dass der Kampf lange genug andauerte und so getan, als ob er die Waffe kaum noch halten konnte. Dann hatte er die Lücke in der Deckung erkannt und dem Anwärter das Schwert aus der Hand geschlagen.
So ähnlich war es bei allen seinen Prüfungen abgelaufen. Mit Geduld, Fleiß und Schläue hatte er sich mühsam vorangearbeitet. Nun erhielt er die Belohnung für die jahrelange Plackerei. Abenteuer und Ehre. Das war es, was nun auf ihn wartete. Der Großteil seiner Vorbereitungen war getroffen und er verabschiedete sich von Toge, um das Hauptgebäude zu betreten. Er musste lediglich noch seinen Ausbilder, Meister Zudu, aufsuchen. Der lange Korridor mit den Gemälden, die die großen Taten längst verstorbener Jäger darstellten, führte ihn auf direktem Wege zu dessen Dienststätte. Sein Blick schweifte über die Abbildungen der Kämpfe gegen Drachen, Bergriesen und Rudel von Gestaltwandlern. Eines Tages würde vielleicht eines der Bilder eine seiner eigenen großen Taten darstellen. Der Gedanke daran ließ ihn verstohlen lächeln.
Am Ende des Ganges hielt er vor der Tür inne und sammelte sich für dieses letzte Gespräch. Während seiner gesamten Ausbildung war es nie mit etwas Gutem verbunden gewesen, die Räumlichkeiten des Meisters aufzusuchen. Selbst heute breitete sich ein mulmiges Gefühl in seinem Magen aus. Zögerlich klopfte er an und der Meister rief ihn ungeduldig herein, als ob er nur auf ihn gewartet hätte. Luves betrat den kleinen, schmucklos eingerichteten Raum, der von zwei Feuerschalen beleuchtet wurde. Zudu erhob sich hinter seinem massiven Arbeitstisch aus dunklem Holz. Ehrfürchtig verneigte sich Luves und entbot ihm seinen Gruß.
»Du kommst spät«, wies Zudu ihn streng zurecht.
»Vergebt mir, Meister. Ich habe zuvor Meister Bukov und Meister Riudan aufgesucht und von ihnen Instruktionen und meine Ausrüstung erhalten.«
»Diese Schwätzer!«, knurrte Zudu.
Erstaunt hob Luves den Kopf, denn er hatte niemals zuvor erlebt, dass sein Meister sich derartig abfällig über andere Magier äußerte. Er biss sich verstohlen auf die Unterlippe, um ein Grinsen zu unterdrücken, doch seine Miene entging Zudu nicht und er sah ihn strafend an. Schnell senkte Luves wieder seinen Kopf und starrte auf den Steinboden.
»Wie man dir bereits mitgeteilt hat, sollst du zu den Sommerfeldern reisen. Hast du dir die Karten gut eingeprägt?«
»Ja, Meister.«
»Das Gebiet, in dem der Faun gesehen wurde, ist sehr groß. Auch wenn Meister Friebert dich begleitet, musst du dich genau umhören und auf jede Kleinigkeit achten. Hast du dazu noch Fragen?«
»Meister Bukov sagte, es gäbe keine Beschreibung des Wesens …«
»Nur, weil er sie nicht kennt, heißt es nicht, dass sie nicht vorhanden ist. Die Informationen des Händlers sind spärlich, aber dennoch geben sie dir einige Anhaltspunkte«, unterbrach Zudu ihn ungehalten. »Bei dem Wesen handelt es sich um ein recht junges Exemplar, das ungefähr in deinem Alter ist. Lass dich davon jedoch nicht täuschen, denn ein Faun ist bereits in jungen Jahren hinterhältig und verschlagen. Sie geben vor, arglos und schwach zu sein, um das Mitgefühl der Menschen zu erregen. Doch sie nutzen jede Gelegenheit, um anderen Schaden zuzufügen. Der Händler, den die Kreatur ausgeraubt hat, beschrieb ihn als schmal, mit blondem Haar und von mittlerer Größe. Er nannte sich selbst Semingion.«
Luves nickte und prägte sich alle Einzelheiten genau ein. Zudu hieß ihm mit einer Geste sich zu nähern und er trat an den Arbeitstisch heran. Der Meister überreichte ihm mit ausdrucksloser Miene ein Schwert, das in einem ledernen Futteral steckte. Luves stockte der Atem, als er seine erste eigene Waffe entgegennahm. Mit ihr würde er sein Leben verteidigen und den Faun stellen. Seine Hände zitterten vor Aufregung, als er den Gurt anlegte. In den Augen seines Meisters zeigte sich ein Anflug von Ungeduld über seine Ungeschicklichkeit.
»In deiner Kammer hat der Quartiermeister bereits die Reisekleider und alles, was du an weiterer Ausrüstung benötigst, zurechtlegen lassen.«
»Ich danke Euch, Meister«, sagte Luves und deutete eine Verbeugung an.
Meister Zudu händigte ihm eine Geldbörse aus.
»Darin befinden sich zwanzig Goldkreuzer für deine Reise, damit deine Unterkünfte und Verpflegung gesichert sind. Teile dir das Geld gut ein und verprasse es nicht am ersten Tag.«
»Das werde ich nicht, Meister«, versprach Luves.
»Da wärst du nicht der Erste, dem das passiert.«
Der Anflug eines Lächelns zeigte sich auf Zudus Mund, doch es verschwand sogleich wieder.
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