Tiemann lächelte still in sich hinein.
"Dem müssen Sie - oder du, da kann ich mich noch nicht so schnell dran gewöhnen, also, da musst du ihm aber eine wirklich schöne Nacht geschenkt haben, wenn er so talentiert in die Tasten greift."
"Na ja, aber dann Arrividerci! Eben nur ein Cappuccino! Viel Schaum, etwas bittere Süße - und dann doch nur Milchkaffee!"
Frau Raphael verabschiedete sich zu einigen Einkäufen. Schließlich kann man ein pastellgrünes Lucia-Kostüm nicht eine Woche lang tragen. Und für da drunter musste Jelmoli wohl auch etwas parat haben.
Als sie sich wieder trafen, hatte Tiemann ein paar Buchhandlungen abgeklappert, hatte vergeblich nach seinen eigenen Büchern gefragt. Zuletzt konnte er nicht widerstehen, zwei kleine antiquarische Stiche "Durchquerung der wilden, tosenden Schlucht der Via Mala" zu kaufen. Für sein Hobby: Geschichte der Alpenübergänge.
Genoss er es eigentlich, endlich mal allein - ohne die Raphaelin - zu sein? Ja und nein. Ohne sie wäre er wahrscheinlich in irgendeinem Alpendorf hängengeblieben, faul, und er hätte gewartet, bis eine Kerckhoff-genehme Story wie eine Flaumfeder auf ihn herabgeschwebt wäre. So hatte er mit seiner gereiften Anhalterin eine Geschichte "wia aus dem richtig'n Leb'n".
Seine Siesta auf der Bank am Domplatz wurde dann auch jäh beendet von der fröhlichen Renate, bepackt mit drei prallen Kaufhaus-Tüten und der Erklärung, sie hätte ja auch Zahnpasta und Haarwaschmittel einkaufen müssen. Und so weiter.
Drei pralle Einkaufstüten voll? Hoffentlich hatte da drin auch ein Kamm Platz!
In Thusis hätte sie ihre Einkäufe wesentlich preiswerter erledigen können. Hier waren aus irgendwelchen Gründen die Schaufenster voll mit Occasions-Aufklebern. Parkplätze waren allerdings Mangelware.
So fuhren sie gleich weiter durch die tosende Schlucht der Via Mala und wurden von einer herrlichen Abendsonne im Schamsertal begrüßt, nachdem die steilen, furchterregenenden Felswände der Klamm den Blick freigegeben hatten.
Tiemann kannte diese Landschaft – wie er sagte – in- und auswendig und liebte sie über alles. So lenkte er sein Auto zum Erstaunen seiner Beifahrerin sofort in Richtung Zillis.
Ein absolutes MUSS! betonte er. Wer hier auf der Schnellstrasse vorbeidonnere, habe sich kulturell total und völlig disqualifiziert. Denn er könne entweder nicht lesen, habe in Kunstgeschichte eine Sechs (was in der Schweiz allerdings der deutschen Eins entspräche), hätte überdies keinerlei Phantasie, von religiöser Gesinnung einmal ganz abgesehen. Alpine Geschichte bliebe ja ohnehin immer mehr zugunsten banausenhaften Kilometerfressens auf der Strecke. Wer mache sich schon noch wirklich Gedanken darüber, was vor und nach einer Durchquerung dieser teuflischen Klamm in den überlebenden Menschen vor sich gegangen sein musste.
Renate Raphael hatte stumm dieser explosionsartigen Vorlesung ihres Chauffeurs gelauscht, wusste aber zuletzt immer noch nicht, was denn nun diesem kleinen malerischen Dörfchen Zillis zu seinem Ruhm verhelfen könnte.
Tiemann steuerte mit geradezu unziemlicher Geschwindigkeit den Parkplatz neben der Kirche an, stürzte Hals über Kopf aus dem Auto und auf die Kirchentür zu, ohne auf die etwas behäbigere Frau Raphael zu achten. Glücklicherweise gab die Klinke nach; denn im Inneren lauschte eine Gruppe den Erläuterungen eines Reiseleiters.
"Die Beleuchtung, die Beleuchtung, die Beleuchtung, das Abendlicht!" flüsterte der atemlose Tiemann und starrte ergriffen gegen die Decke. "Einzigartig auf der ganzen Welt! Fast original erhalten, diese 153 wunderschönen Bildtafeln, die ganze christliche Verkündigung vermischt mit den heidnischen Urängsten, das Alte und Neue Testament - eine Bilderfibel, meisterhaft, meisterhaft. Ach, was wussten sie damals doch über die Methodik des Lernens - angesichts der vielen Tausend Analphabeten und armen Teufel, die sich keine Bibel leisten konnten! Damals elfhundertundeinbisschen hatten sie mehr Ahnung vom multimedialen Lernen als die Vielschwätzer von heute!"
Kurzum - Tieman war hin und weg, wie man zu sagen pflegt. Und Renate bekam einen steifen Hals, weil sie ständig zur Decke schauen musste und sich nicht - wie Tiemann - längelang auf eine Kirchenbank zu strecken wagte.
Hier bleiben wir - entschied er diktatorisch. Womit er allerdings nicht das Kirchlein St. Martin meinte, sondern seinen Traumort, wie er sagte, das Dörfchen Zillis.
Das allerdings erwies sich als voreilig. Ein einziges Doppelzimmer hätte es im Gasthof noch gegeben, kein Einzel und auch keine Kammer. Die Privatpensionen auch voll, so dass sie nach Andeer weiterfahren mussten, einen Katzensprung, und trotz der für Deutsche hohen Hotelpreise mussten sie lange auf Herbergssuche gehen und fast mitleidige Blicke ernten, weil die Frau Gemahlin oder Lebensgefährtin partout in ein separates Zimmer abgeschoben werden sollte.
Liebesgeschichten oder erotische Romane landen irgendwann unweigerlich an einer Rezeption, wo es nur noch ein einziges Doppelzimmer gibt. Das wusste Tiemann nur zu genau. Gerade deshalb kam ihm die Situation absolut lachhaft vor, peinlich dumm, zumal er sich immer wieder dabei ertappte, dass sich diese Geschichte zwischen zwei so verschiedenen Menschen kaum für einen Roman eignen würde. Langweilig. Noch kein entzweiender Krach. Noch immer ein kleiner Vorrat an Harmonie. Die gelegentlich ausgelassene Fröhlichkeit seiner Beifahrerin, die das Ganze als eine Art verspäteten Jungmädchenstreich zu begreifen schien. Sie fand es einfach toll und schnieke (Ausdruck aus ihrer Jungmädelzeit), hinzufahren, wo der Pfeffer wächst, und angeblich mit Karin auf die Alm. "Da gibt's koa Sünd!" trällerte sie. Doch war er sich nicht mehr so ganz sicher, ob sie sich nicht doch so klammheimlich "so a Sünd'" wünschte.
Nein, brav bezogen sie ihre getrennten Zimmer. Er schmiss sich quer auf sein Bett und schlief sofort ein. Klopfen weckte ihn. Da war es schon dunkel geworden. Auf sein Herein konnte Frau Raphael einen kleinen ersten Eindruck gewinnen, was er mit Chaos meinte.
Chaos, belehrte er sie beim Röschti mit Ei, das ist Schlafen, wann man will, Aufstehen, wann man will, Essen was und wann man will, kein MUSS, sich was anzusehen (Zillis natürlich ausgenommen!), kein Waschzwang, Dreitagebart, spontan vom Wege abweichen, auch mal vom richtigen Wege - und sich an die Autobahn stellen, statt brav bei ALDI einzukaufen.
"Insofern bist du schon ganz schön chaos-verdächtig, Renate! Nur der Punktegewinn wird für das brave Kostüm wieder abgezogen!"
Er hatte Du gesagt. Ein chaotisches Du.
"Und dann noch was, liebes Mädel! (jetzt kam er so richtig in Fahrt, vielleicht machte das der Dole im Glas) Hast Du mal genau hingeschaut, was unter deiner Cappuccino-Orgie steht? Die du deinem italienischen Lustfreund zugeschrieben hast? Na, dann guck' doch mal!"
Ebenso schnell wie umständlich kramte sie das verknitterte Schriftstück heraus, faltete es ungläubig auf und ....
"Na und? Wie lauten die letzten Buchstaben?"
"TT. TeTe!"
"Und was sagt uns das? Etwa Tomasio Tantarello oder Tobias Tuttirolli?"
Die Raphaelin riss die Augen weit auf. Sie konnte es noch gar nicht glauben.
"Das steht für Thomas Tiemann! Diese Barcarole ist von mir - und dein italienischer Paparazzi hat sie fein säuberlich kopiert. Geschmack hat er ja, in jeder Beziehung, nicht nur, was Texte anbetrifft! Er muss eines jener Tiemann-Bücher besitzen, die ich in Chur im Buchladen vergeblich zu kaufen versuchte. So etwas führen wir nicht, sprach die christkatholische Bibliothekarin. Na ja, ein Katechismus ist das sicher nicht!"
Renate war platt. Ihr Vokabular für solche Knaller schien unterentwickelt. Als Twen der heutigen Zeit hätte sie "Echt geil!" oder "Affengeil", "Ätzend" oder so was ausgestoßen.
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