Oma nickte wohlwollend, als sie die guten Noten in Miltons Zeugnis sah. Den Kommentar seiner Lehrerin registrierte sie zwar, kümmerte sich aber nicht weiter darum. Als die Pädagogin einige Tage später anrief, um mit Oma über Miltons Defizite zu sprechen, legte sie den Hörer auf und zog den Stecker des Telefons aus der Buchse in der Wand, um nicht weiter belästigt zu werden.
»Alles gut, mein lieber Junge. Oma ist stolz auf dich. Bleib so wie du bist.« Mit ihrer speckigen Hand streichelte sie Milton übers Haar. Der Junge wäre nie auf die Idee gekommen, seine Oma zu enttäuschen.
So meisterte Milton die Schulzeit mit guten Leistungen. Natürlich überstand er sie nicht ohne die eine oder andere Schlägerei. Mit seinem hochnäsigen Verhalten forderte er eine Tracht Prügel geradezu heraus. Seine Mitschüler stopften ihn in den Papierkorb und verpassten ihm eine Haarwäsche in der Toilettenschüssel. Einen Freund fand er während seiner gesamten Schulzeit nicht, weder in der Grundschule noch später auf der High School. Es fehlte ihm aber auch niemand.
Nach dem bestandenen Collegeabschluss entschied er sich, Chemie zu studieren. Eins zu null für Linus Pauling, nicht böse sein, Stephen Hawking. Ein Fach, bei dem es klare Antworten auf alle Fragen gibt. Milton hasste es, zu diskutieren, Meinungen zu vertreten. Wasser bestand aus den Elementen Wasserstoff und Sauerstoff. Ende der Diskussion!
Er verwandt keine Energie darauf, andere Studenten kennenzulernen, von Studentinnen ganz zu schweigen, und verzichtete auf die gesamte Palette der Freuden des freien Lebens an der Universität: Keine Partys, keine Besäufnisse, keine Kopfschmerzen, keine Zeitverschwendung. Er benötigte bis zum Abschluss vier Semester weniger als die Regelzeit vorsah und machte sich anschließend daran, seine Doktorarbeit zu schreiben. Alles wäre super, wenn nur die nervigen Erstsemester nicht wären...
Milton setzte sich an seinen Laptop und rief den Blog seines Kurses auf: »Was haben wir denn an neuen Kommentaren«, murmelte er.
»Chemiekurs bei Milton Taylor. Der einzige Ort der Welt, an dem die Zeit rückwärts läuft«, las er unter dem Pseudonym. »SheHatesMilton«. Was weißt du schon darüber, du dummes Huhn?, dachte er. Er selbst hatte natürlich alle Studien der Physik-Kollegen dazu gelesen. Wie sonst sollte er sonst ernsthaft darüber nachdenken, jemals eine Zeitmaschine fertig zu stellen?
»Milton Taylor, der Roboter unter den Dozenten!«, las er weiter.
»Roboter«, sagte er. »Heißt das jetzt was Positives oder was Negatives?«
Milton dachte nach. Er konnte sich besser vorstellen, mit Robotern zu kommunizieren als mit Menschen. Miltons Mundwinkel zogen sich in die Höhe. »Cool«, sagte er. »Mein erster Lob.«
Auch wenn es ihm eigentlich egal war.
Milton zog die Schublade seiner Kommode auf. Lionel und Harold hatten sich zu einer Runde »Master of Monster« angemeldet, ein Spiel, bei dem es darum geht, mit seinen Karten die des Gegners zu bezwingen. Eine Art Autoquartett für große Jungs. Zumindest, was den Preis angeht.
Er suchte die Dose aus poliertem Edelstahl, in der das aktuelle Ergänzungsdeck des Kartenspiels verkauft wurde. Irgendwie mussten die 79,95 Dollar ja gerechtfertigt sein.
Milton durchwühlte die Schublade, konnte die Kartenkiste jedoch nicht finden. Dafür umschlossen seine Finger ein kleines Holzkästchen. Behutsam zog er es heraus.
Die kleine Holzkiste war ungefähr so groß wie eine Zigarettenschachtel. Den Deckel verzierte eine aufwändige Einlagearbeit, die einen Drachen darstellte, helles Holz in dunklem Holz.
Milton klappte das Kästchen auf und sah hinein. Darin lag, in einem Bett aus dunkelblauem Samt, ein Hörgerät. Das Hörgerät seiner Oma.
Langsam, wie in Zeitlupe, nahm er es aus der Holzschachtel. Omas Hörgerät war kein Modell auf dem neuesten Stand, das sich im Ohr verbarg und unsichtbar getragen werden konnte. Omas Hörgerät aus den 80-er Jahren erinnerte an eine fleischige Auster aus hartem Kunststoff, die hinter Omas Ohr einen schmerzhaften Abdruck hinterließ, weshalb sie das Hörgerät selten benutzt hatte. Ein Bügel aus transparentem Kunststoff führte zum Lautsprecher, der so geformt war, dass er in eine Ohrmuschel passen sollte, ohne zu verrutschen. Doch das war leider Theorie. Milton schaltete das Gerät an und verzog das Gesicht, als es in seinem Ohr kreischte: Er drehte an einem kleinen Rad und regulierte die Lautstärke, bis das Pfeifen leiser wurde.
Die Geräusche seiner Umgebung stürmten in erhöhter Lautstärke auf ihn ein. Der Kühlschrank brummte in Miltons Ohr so laut wie ein Dieselgenerator. Die Heizung rauschte, als säße er am Strand und nicht am Schreibtisch in seinem Wohnzimmer.
Und dann hörte er sie. Oma! Ganz leise zunächst, aber mit ihrer unverkennbaren Stimme. »Milton?«, rief sie ihn. »Bist du das, mein Junge?« Omas Stimme wurde beständig lauter und verständlicher.
»Milton, bist du das, mein Junge?«
»Oma«, antwortete Milton. »Oma, ich bin hier. Hörst du mich?«
»Milton, mein lieber Junge. Wie geht es dir?«
»Oma! Du fehlst mir!« Tatsächlich wurde ihm das erst jetzt klar.
»Ich weiß, Milton. Du fehlst Oma auch. Wie kommst du klar ohne deine Oma?«
»Ich bin lieb, Oma!«
»Das ist mir klar. Du warst immer ein lieber Junge.«
Eine Pause. Und dann: »Du hast nicht vergessen, was Oma dir über die Frauen gesagt hat?«
Milton zögerte. Er dachte an die Zellen in Opas Bunker. »Nein...«
»Milton, enttäusche deine Oma nicht. Frauen sind böse. Frauen sind schlecht. Sie wollen dir nichts Gutes! Sie verlassen Dich. Sie lassen Dich alleine. Sie sind undankbare Geschöpfe. Und schmutzig.«
»Ich tue ihnen auch nichts Gutes«, sagte Milton und dachte erneut an die Dunkelheit unter dem Keller. Er nickte dabei, als würde er seiner Oma gegenüberstehen.
»Was tust du ihnen denn?« Sheldon bemerkte eine Schärfe in Omas Stimme.
Er machte den Mund auf, bleib jedoch stumm.
»Was tust du welchen Frauen an?«, wollte Oma wissen.
Milton war nicht in der Lage, ein Wort zu formen.
»Wie werden später darüber reden«, sagte seine Großmutter. Die letzten Silben verklangen leise, als würde ein Diskjockey bei den letzten Rhythmen eines Musikstücks die Lautstärke herunterdrehen.
Milton räusperte sich. Er setzte mehrmals an, bis ein Geräusch aus seiner Kehle drang.
»Oma?«
Keine Antwort.
»Oma, ich hör dich nicht mehr?«
Keine Silbe.
»Oma!« Miltons Stimme wurde dünn und schrill. »Ich habe nicht vergessen, was du mir über Frauen gesagt hast! Sie sind schlecht und wollen mir nichts Gutes! Oma!«
Stille.
»Oma!« Miltons Stimme überschlug sich.
Oma war weg. Milton hörte nur noch das Rauschen der Heizung und den brummenden Kühlschrank.
Er nahm das Hörgerät aus der Ohrmuschel und schaltete es aus. Danach legte er es mit zitternden Fingern auf das blaue Samt im Innern des Kästchens, klappte den Deckel zu, zog die Schublade auf und legte es hinein. Dabei stießen seine Finger an etwas Kaltes. Seine Hand griff zu und zog die Metallkiste mit den Monsterkarten heraus. Wo war die denn vorhin gewesen?
Milton öffnete die Kiste und holte die Karten heraus.
Kurze Zeit später klingelte seine Türklingel. Milton hob die Hand und schaute auf seine Armbanduhr. Seine Finger blieben ruhig dabei. »Typisch«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Unzuverlässig wie immer. Sieben Minuten zu spät.«
»Gehörnter Hamster!« Mit Triumph in der Stimme legte Harold eine Monsterkarte auf den Stapel.
Milton runzelte die Stirn. Er betrachtete seine zwei restlichen Karten und zog eine heraus. »Schlange des Donners! Mit Appetit auf Hamster, mjam, mjam. Du bist dran, Lionel.«
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