Mit ausdruckslosem Gesicht beobachtete Milton das Geschehen auf dem Bildschirm. Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was mit dir los ist, Harold. Dieser Mensch ähnelt mir so viel wie ein Schimpanse einem Blauwal. Aber der Zwerg mit der Brille könnte tatsächlich demselben Genpool entstammen wie du, Lionel.«
Lionel hatte seine Brille beim Essen abgesetzt und setzte sie nun auf, um das Fernsehgerät besser erkennen zu können. »Werd nicht frech, ich bin bestimmt fünf Zentimeter größer«, antwortete er. »Aber der dürre Lange da sieht wirklich aus wie du. Der spricht auch so wie du!« Er hielt sich die Nase zu und äffte nach, was Sheldon Cooper gerade zu dem kleinen Inder sagte.
Harold lachte. »Hab ich doch gesagt. Das sind auch so Nerds wie ihr. Absolute Loser!«
»Bleib locker, Harold«, meinte Lionel. »Ist dir nicht aufgefallen, dass dir der Kleine mit dem Pottschnitt wie aus dem Gesicht geschnitten ist? Wusstest du von deinem Halbbruder?«
Harold lehnte sich entrüstet in seinem Sessel nach hinten. »Willst du mich beleidigen? Ich trage meine Haare doch ganz anders.«
»Natürlich, Walross«, sagte Lionel.
»Walross, wieso Walross?«
Auf dem Bildschirm öffnete sich die Tür zur Wohnung der vier jungen Männer. Vier Mädchen schauten ins Zimmer.
»Wow«, machte Lionel. »Was sind denn das für scharfe Frauen?«
»Die Blonde ist immer dabei, die anderen kenne ich nicht«, sagte Harold, der offenbar bereits mehrere Folgen gesehen hatte. »Sie ist mit der Brillenschlange zusammen. Unfassbar, nicht? Du hast also noch Hoffnung, Lionel.«
»Kaum zu glauben«, antwortete Lionel. »Wie hat der Typ das bloß hinbekommen?«
Der Bildschirm wurde schwarz und stumm.
»Hey!«, riefen Harold und Lionel wie mit einer Zunge und blickten Milton an, der mit der Fernbedienung zwischen ihnen saß. Er sah seine beiden Freunde tadelnd an und schüttelte den Kopf.
»Wir schauen bewusst und ausgewählt Fernsehen«, sagte er. »Wir schauen nicht jeden Mist.«
»Das ist kein Mist. Das ist echt lustig«, meinte Harold.
»Mag sein, aber das werden wir nie erfahren. Denn es läuft nicht in diesem Gerät. Wie ihr wisst, ist der Dienstag Abend für Dr. Who reserviert. In zehn Minuten auf Fox. Änderungswünsche bitte schriftlich bei mir einreichen.« Er behielt die Fernbedienung in der Hand, damit Harold das Gerät nicht verbotenerweise wieder einschaltete.
»Du hast Recht«, sagte Harold. »Warum sollte ich eine Serie schauen, die wie mein Leben mit dir ist?«
»Allerdings ohne die Blonde«, warf Lionel ein. »Leider ohne die Blonde!«
Später, als seine Freunde gegangen waren, nicht ohne vorher ständig an Dr. Who herumzunörgeln, nur um ihn zu ärgern, kippte Milton die Essensreste des italienischen Abends in den Mülleimer und packte die schmutzigen Teller in die Spülmaschine.
»Ach Oma, niemand kann Spaghetti kochen wie du«, sagte er und betrachtete ein Foto auf dem Regal über der Spüle. Es zeigte den sechsjährigen Milton mit einer Schultüte auf dem Arm. Neben ihm stand seine Oma; sie füllte drei Viertel des Fotos aus. Milton nahm den Fotorahmen in die Hand und wischte mit dem Unterarm über das Glas, um die dünne Staubschicht zu entfernen. »Der Beginn meiner akademischen Karriere«, sagte er. »Und nach dem ersten Schultag gab es Spaghetti Bolognese. Da kann ich mich noch genau dran erinnern.«
Was Milton nicht ahnte - Oma hatte vor dem Fototermin wochenlang schlaflose Nächte, weil sie Milton nicht mehr 24 Stunden am Tag beaufsichtigen konnte. Der Junge wäre gerne in den Kindergarten gegangen, aber das kam für Oma überhaupt nicht in Frage. Doch der Kindergarten war keine Pflichtveranstaltung wie die Schule. Oma hatte sogar daran gedacht, Milton privat zu Hause zu unterrichten. Selbst ihr war jedoch klar, dass die Schulbehörde dabei nicht mitspielen würde.
Miltons ersten Schultag würden beide nicht vergessen. Oma hatte sich keinen Meter vom Schultor wegbewegt und nervös an ihren Nägeln gekaut, bis die Pausenglocke die Kinder nach Hause entließ. Wie bei einem Feueralarm waren die Kinder aus dem Gebäude gestürmt und zu ihren ebenfalls wartenden Müttern und Vätern gerannt. »Mama, Mama! Einer musste schon in der Ecke stehen! Der da, Milton heißt er!«
Mit roten Ohren schlich Milton zu seiner Oma. »Was war los, mein Junge?«, fragte sie.
»Die Lehrerin hat eine Geschichte über einen Dackel vorgelesen und gefragt, war er für Ohren hat. Da habe ich Schlappohren gesagt.«
»Ja und, das stimmt doch.«
»Ich wusste aber nicht, dass man in der Schule aufzeigen und warten muss, bis die Lehrerin einen dran nimmt.«
»Und?«
»Die Lehrerin hat mich in die Ecke geschickt, weil ich die Antwort einfach so gegeben habe.«
»Soso, in die Ecke geschickt. Warte hier auf mich. Ich komme gleich wieder.«
Ihr Körper bebte, als sie mit ihren säulenartigen Beinen die Stufen zum Haupteingang hinaufstapfte. Die letzten Erstklässler verließen den Klassenraum, also wusste Oma, wohin sie sich wenden musste, um Dampf abzulassen.
Miltons Lehrerin war gerade dabei, ihre Unterlagen in eine Ledertasche zu packen, als das Donnerwetter über sie niederging.
Ohne einen Gruß und ohne sich vorzustellen, legte Oma los: »Was fällt Ihnen ein, meinen Milton in die Ecke zu stellen? Und das schon am ersten Tag. Ich habe doch gewusst, warum ich ihn nicht in die Schule lassen wollte. Die Lehrer heutzutage sind ja schon am ersten Schultag überfordert.«
Miltons Lehrerin war eine erfahrene Pädagogin und an einiges gewohnt, aber diese Schimpftirade erwischte sie unvorbereitet.
Während sie sich sammelte, schimpfte Oma weiter. Dass sie sich nicht nur beim Rektor beschweren würde, sondern außerdem beim Schulamt und beim Bürgermeister.
»Jetzt beruhigen sie sich doch erst einmal«, versuchte Miltons Lehrerin den Redeschwall zu unterbrechen. Keine Chance.
Oma zeterte weiter.
Mitten in ihrer Schimpf-Orgie hörte sie plötzlich auf, den Mund weiterhin geöffnet, beide Hände zu Fäusten geballt. Die Lehrerin beobachtete, wie der dicken Frau ein Speichelfaden aus dem Mundwinkel tropfte. Es sah aus wie in Zeitlupe, weil Miltons Oma nun völlig regungslos vor ihr stand.
Dann klappte sie den Mund zu, drehte sich um und stampfte aus dem Klassenzimmer.
»Puh«, machte die Lehrerin. Was für ein Auftritt, dachte sie. Habe ich das geträumt? Sie rümpfte die Nase. Ein leichter Schweißgeruch wie von gedünsteten Zwiebeln und der auf den Boden getropfte Speichelfaden erinnerten sie daran, dass die seltsame, dicke Frau Realität gewesen war.
Nach Omas Auftritt war Milton Lehrerin auf einiges gefasst. Ihr war klar, dass sich solche Auftritte wiederholen konnten. Dass sich der Junge als hyperintelligent entpuppte, machte ihren Job nicht einfacher. Er kapierte doppelt so schnell wie seine Klassenkameraden und langweilte sich die meiste Zeit. Immerhin störte er nicht. Nach wenigen Wochen konnte er lesen und blätterte unter dem Schulpult in seinen Büchern. Zunächst dachte seine Lehrerin, er würde Micky Maus oder ähnliche Comics lesen. Als sie registrierte, was ihr Schüler heimlich verschlang, fehlten ihr die Worte. Milton las Bücher von Stephen Hawkings und Linus Pauling, einem der größten Chemiker aller Zeiten und Miltons akademisches Vorbild schon in der ersten Klasse.
Seine Noten waren ausgezeichnet. Mit einer Ausnahme: Sein Sozialverhalten blieb auffällig, und das schrieb seine Lehrerin in sein erstes Zeugnis.
»Milton ist nicht in der Lage, eigene Fehler anzuerkennen. Er sucht die Schuld stets bei anderen. Für Gruppenarbeiten ist er ungeeignet. Im gesamten Jahr ist es ihm nicht ein einziges Mal gelungen, mit anderen Schülern zu kooperieren. Ich halte es für angebracht, dass wir uns einmal persönlich darüber unterhalten.«
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