1 ...7 8 9 11 12 13 ...18 »So, und jetzt fahren wir nach Hause«, sagte Oma leise genug, um das Baby nicht aufzuwecken.
»Gestern habe ich noch einmal den zweiten Teil von Kill Bill auf DVD gesehen. Ihr wisst, was ich meine, den Film von Quentin Tarantino, in dem Uma Thurman geschätzt eine Million Japaner mit dem Schwert erledigt.« Harold fuchtelte mit seinem Arm vor Miltons Nase herum.
»Wir kennen Kill Bill, Harold«, antwortete Milton und richtete die Schutzbrille aus bruchsicherem Kunststoff auf seiner Nase aus. »Wir haben beide Teile zusammen in einem Double Feature im Kino gesehen. Und jetzt nimm deinen Arm aus meinem Gesicht. Sonst wirfst du noch den Jenga-Turm um.« Er griff nach einem Holzklotz und machte sich daran, ihn vorsichtig aus dem Stapel zu ziehen.
»Dabei ist mir eine Frage gekommen. Könnt ihr euch daran erinnern, wie sie in dem Sarg gelegen und sich selbst daraus befreit hat?«
»Ich weiß, was du meinst«, mischte sich Lionel ein. »Niemand kann einen Sargdeckel mit bloßer Hand durchschlagen, wenn anderthalb Meter Erde darauf liegen.«
»Lionel, was soll die unqualifizierte Äußerung? Ich bin sicher, dass es Harold um etwas ganz anderes geht. Habe ich Recht, Harold?«
Milton beantwortete seine Frage selbst, wie so oft. »Es geht um Uma Thurmans Sauerstoff-Verbrauch im Sarg. Nicht zu vergessen ihr Feuerzeug, dessen Flamme ebenfalls Sauerstoff verbraucht. Habe ich Recht, Harold? Diese wissenschaftliche Fragestellung hat mich nämlich ebenfalls beschäftigt.« Es war ihm inzwischen gelungen, das Jenga-Hölzchen komplett aus dem Stapel zu ziehen. Er legte es auf den Tisch und richtete es so lange aus, bis es mit den anderen eine gerade Linie bildete.
»Milton, o Nerviger. Du hast Recht. Das war es, was mich umtrieb«, Harold rollte die Augen.
»Na, das lässt sich doch ganz einfach ausrechnen«, meinte Milton. Der menschliche Körper atmet in der Minute rund zehn bis zwölf Mal. Das Volumen dabei beträgt rund zehn Milliliter Sauerstoff pro Kilogramm Körpergewicht. Uma Thurman ist eine relativ große Frau und wiegt daher trotz ihres schlanken Körperbaus um die 70 Kilogramm.«
»70 wunderbar verpackte Kilogramm«, warf Harold ein und seufzte.
»Ich denke, du stehst mehr auf Jennifer Anniston«, sagte Lionel.
»Ach, meine unerreichbare Freundin Jennifer A.«, seufzte Harold, faltet die Hände neben seinem Gesicht und schaute verklärt an die Decke des Wohnzimmers.
»Was soll das hier? Plaudern wir sinnlos, oder diskutieren wir ein wissenschaftliches Phänomen?«, fragte Milton. »Also weiter: Die eingeatmete Luft enthält 21 Prozent Sauerstoff, die ausgeatmete Luft 17 Prozent. Dazu vier Prozent Kohlendioxid. So kommt eine 70 Kilogramm schwere Person auf rund 400 Milliliter Sauerstoff pro Minute. Jetzt müssen wir nur noch das Gasvolumen im Sarg berücksichtigen, abzüglich der Masse einer 70 Kilogramm schweren Frau.«
»Du darfst nicht vergessen, dass sich Uma Thurman in der Kiste keinesfalls entspannt hat, sondern äußerst erregt war. Und die Klopperei unter den Sargdeckel hat ebenfalls überdurchschnittlich viel Sauerstoff verbraucht«, warf Lionel ein. Er drückte und zog an verschiedenen Klötzchen, bis er eines erwischte, das sich leichter löste als die anderen.
»Endlich mal ein qualifizierter Beitrag von dir«, kommentierte Milton. »Das ändert zwar nichts an dem Respirationsquotienten RQ, der sich, wie ihr sicher wisst, errechnet aus VCO2 geteilt durch Vo2, also das Volumen des Kohlendioxids geteilt durch das Volumen des Sauerstoffs. Ich gebe dir trotzdem Recht. Es bleibt eine Rechnung mit zu vielen Unbekannten, die ohne Experiment nur ein unbefriedigendes Ergebnis zulässt.«
»Ohne Experiment?«, fragte Harold und zog nun seinerseits einen weiteren Klotz aus dem Holzstapel. »Willst du Uma Thurman entführen, sie in einen Sarg legen, den Sarg vergraben und die Zeit stoppen, bis sie bewusstlos wird und stirbt?«
»Um ein exaktes Ergebnis zu erlangen, wäre das die einzige Möglichkeit.« Milton war wieder an der Reihe.
»Milton, manchmal glaube ich, dass du spinnst.«
»Lionel, sei nicht dumm. Natürlich weiß ich, dass wir niemals auf Uma Thurman für dieses Experiment zurückgreifen könnten.«
»Willst du eine andere 70 Kilogramm schwere Frau entführen?«
»Hm«, machte Milton und blickte versonnen in die Luft.
»Du bist echt ein Spinner«, wiederholte Lionel und prockelte vorsichtig einen weiteren Jenga-Block aus dem aufgestapelten Turm.
»Logbuch-Eintrag 440. Manchmal denke ich, Lionel leidet an einem Hirntumor. Wie sonst soll ich mir erklären, dass er allen ernstes von mir erwartet, ich würde Uma Thurman kidnappen und in einem Sarg lebendig vergraben? Wie sollte ich an sie herankommen? Glaubt Lionel wirklich, es wäre so ohne weiteres möglich, eine prominente Person wie Uma Thurman zu entführen? Was ist er doch für ein Volltrottel!
Dennoch muss ich zugeben, dass ich unterschätzt habe, wie viele Variable sich aus der Versuchsanordnung ergeben. Wahrscheinlich ist es nicht möglich, über eine Formel zu einem verbindlichen, allgemein gültigen Ergebnis zu kommen. Das missfällt mir. Aber ich gebe nicht auf. Es wird mir schon gelingen, das Problem zu lösen.
Aber nicht jetzt. Es hat mich sehr angestrengt zu erleben, wie ungeschickt Harold ist. Vier mal hintereinander hat er den Jenga-Turm umgestoßen. Wie konnte er mit zwei linken Händen jemals sein Vordiplom als Elektrotechniker bestehen?
Ende Logbuch-Eintrag 440.«
Milton stand vorne im Hörsaal am Pult und verstaute seine Unterlagen. Was für Kretins, dachte er. Inzwischen kann wirklich jeder Vollidiot an einer Universität studieren.
Er schüttelte in Gedanken an die Unfähigkeit seiner Studenten den Kopf. Daran, dass er selbst erst vor wenigen Semestern noch auf einem der harten Holzstühle im Audimax gesessen hatte, verschwendete er keinen Gedanken.
Ohne Zweifel war es ihm mit seiner überdurchschnittlichen Intelligenz gelungen, den komplizierten Stoff schneller zu durchschauen und zu begreifen als jeder andere Student in seinen Kursen. Nach sechs Semestern schon hatte er seinen Abschluss in der Tasche, was den Rekord in der Chemie-Fakultät der University of Central New England bedeutete. Obwohl es keinen Zweifel daran gab, dass Milton mit außerordentlichem Talent und Fleiß gesegnet war, fand er zunächst keinen Doktorvater, der seine Dissertation begleiten wollte. Für Milton war der Fall klar. Er bewertete die Zurückhaltung der Professoren als Eingeständnis, ihm nicht das Wasser reichen zu können. Letztlich entschied der Dekan und überredete einen Kollegen druckvoll, die Arbeit zu übernehmen. Der Auserwählte hatte die Ergebnisse seiner jüngsten Forschung - gegen Zahlung eines nicht unerheblichen Betrages - etwas zu sehr im Sinne eines Pharmakonzerns interpretiert, und der Dekan hatte Wind davon bekommen. Sollte diese kleine Geschichte an die Öffentlichkeit kommen, wäre die Karriere des Wissenschaftlers nachhaltig beschädigt. Dennoch dachte er zunächst ernsthaft darüber nach, die Universität zu verlassen.
Schließlich redete er sich die lästige Pflicht als Herausforderung ein. Miltons Werk stand unter der Überschrift: »Design von Lewis-Supersäuren und davon abgeleiteten nicht-koordinierenden Anionen für Anwendungen in der katalytischen Polymerisation von Olefinen und Oxacyclen«. Fachlich gab es nichts zu beanstanden. Im Gegenteil. Miltons Thesen und seine wissenschaftliche Beweisführung waren brillant. Trotzdem wartete sein Betreuer sehnsüchtig auf den Abschluss von Miltons Doktorarbeit. Jeden Morgen fragte er sich, wie er diesen überheblichen Typen noch länger ertragen sollte.
Als wissenschaftlicher Mitarbeiter seines Doktorvaters musste Milton die neuen Studenten an die Chemie heranführen. Er hasste es, vor den Studenten zu stehen, und die Studenten hassten ihn. Er nahm keinerlei Rücksicht auf die Bedürfnisse der unsicheren Erstsemester. Manche von ihnen hatten sich über ihn beschwert, doch ihre Klagen blieben wirkungslos. Miltons Doktorvater hatte keine Zeit und keine Lust, den Anfängerkurs zu leiten. Er richtete ein paar mahnende, wirkungslose Worte an seinen Schützling, und damit war für ihn das Thema erledigt.
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