Sie huschte aus dem Bad auf den Flur in Richtung ihres Labors. Niemand war zu sehen, die meisten Kollegen saßen beim Essen in der Kantine. Sie öffnete ihre Tür, trat hindurch und atmete erleichtert auf, als sie hinter ihr ins Schloss fiel.
„Frau Dr. Makel?“
Angelika fuhr zusammen. Hinter ihrem Versuchstisch saß Jennifer Lang und schielte in ein Mikroskop.
„Schöne Arbeit. Diese Proben sehen gut aus.“
„Ich – hallo Frau Lang – gestern war noch nichts zu sehen.“
„Nicht?“ Lang musterte sie. „Sie sehen krank aus – geht es Ihnen nicht gut?“
„Also, nein, ich wollte gerade...“
Lang zog ihr Telefon aus der Tasche und drückte ein paar Tasten.
„Lang hier. Ich brauche Dr. Mangala in Labor 7.13. Sofort.“ Sie legte den Hörer weg. „Setzen Sie sich doch.“
Angelika gehorchte. Während sie warteten, hatte sie den Eindruck, von Lang ausführlich angeschaut zu werden. Sie musterte Angelika mit dem Blick eines Naturforschers, der eine neue Tierart betrachten würde.
Dr. Mangala stellte sich als ein freundlicher, älterer Herr heraus. Wie Angelika schon befürchtet hatte, bestand er darauf, dass sie in Quarantäne verlegt wurde, bis sie herausgefunden hatten, ob sie sich mit dem Virus angesteckt, oder einfach nur eine Grippe hatte.
In einem winzigen, bis zur Decke in weiß gefliesten Zimmer auf der Krankenstation spritzte er ihr ein Antibiotikum und ein Beruhigungsmittel, und wies sie an zu versuchen, etwas zu schlafen. Was sollte sie auch sonst tun? Hier gab es nicht mal einen Fernseher. Nur das Bett und eine Garderobe, auf der ihre Kleidung hing. Dr. Mangala hatte darauf bestanden, dass sie einen Krankenkittel anzog. Immerhin lief ihr Nickerchen noch unter bezahlter Arbeitszeit.
Sie wachte auf, weil jemand an ihrem Bett stand.
„Georg!“
„Wie geht’s?“
„Schlecht“, gab Angelika zu, „ich glaub, ich hab Fieber. Und meine Hand tut weh. Und ich hab Hunger.“
„Das wird schon wieder.“
„Du darfst gar nicht hier sein.“
Er winkte ab. „Habe mich eingeschlichen. Die können mir doch nicht verbieten, Dich zu sehen.“
Angelika lächelte ihn an. Endlich hatte sie jemanden wie ihn gefunden. Jemanden, der sie auch liebte, wenn es ihr schlecht ging.
„Danke.“
Er grinste schelmisch. „Ach, ich weiß schon, womit Du Dich revanchieren kannst.“
Er trat an ihr Bett und beugte sich zu ihr herunter. Sie roch seinen Schweiß, seinem Atem und in ihr erwachte etwas. Etwas dunkles, hungriger als sie. Georg strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht und näherte seine Lippen den ihren. Nein, tu das nicht. Er öffnete den Mund ein wenig und sein Geruch ließ den Drang in ihr zu stark werden, um gegen ihn zu kämpfen. Sie erwischte mit ihren Schneidezähnen seine Unterlippe. Er zog den Kopf sofort weg.
„Was!?!“
Er tippte sich mit dem Finger gegen die Lippe. Sie hatte ihn nicht richtig erwischt und er war nicht ernsthaft verletzt, blutete aber etwas. Er bemerkte das Blut an seinem Finger, wurde blass und streckte den Finger nach ihr aus.
„Wenn Du mich liebst, dann sagst Du niemandem was hier passiert ist!“
Sie wollte etwas sagen, brachte aber nur ein Gurgeln hervor.
Er war an der Tür. „Niemandem – bitte.“
Angelika war wieder allein.
Wovor hatte er solche Angst? Es klopfte und Jennifer Lang trat mit einer Spritze in der Hand ein.
„Sie werden in ein Labor verlegt, Schätzchen. Sie erweisen ihrem Land einen großen Dienst.“
2: INDUSTRIEGEBIET ZECHENGLÜCK, DONNERSTAG, 30.07.2013, 18:12 UHR
Martina Kraft schritt den Bauzaun ab, der um das Werksgelände gezogen worden war. Auf der anderen Seite folgten ihr stöhnend drei Infizierte. Immer, wenn sie näher an den Zaun trat, um eine Stelle, an der zwei Zaunelemente miteinander verbunden waren, genauer zu überprüfen, geiferten die Infizierten und versuchten, Martina mit den Händen zu erreichen.
Heute Nacht war der Verfall der Infizierten nicht mehr zu übersehen. Fast alle trugen Spuren von Verwesung und waren graublau angelaufen. Martina fand ihre Augen am schwersten zu ertragen. Der Blick war leer, ohne jede Regung. Nur wenn sie näher an den Zaun trat, blitzte darin etwas Neues auf: Hunger.
An die ständige Begleitung während der Zaunwache hatte sie sich mittlerweile gewöhnt. Anfangs hatte sie große Probleme mit dem Anblick der Gefangenen hinter dem Zaun, aber das hatte sich nach ein paar Tagen gelegt. Außerdem war ihr Auftrag leichter geworden. In den ersten Tagen musste sie noch alle paar Stunden irgendwelche Spritzen verabreichen. Der Hunger nach Menschenfleisch machte es zwar recht leicht, die Infizierten an den Zaun zu locken, aber ab dann wurde es unangenehm: Sie musste sich einen Arm greifen, ihn möglichst weit durch den Zaun an sich heranziehen und die Spritze hineinjagen. Die Infizierten zeigten auf den Einstich keinerlei Reaktion. Die einzige Regung, ja die einzige Verhaltensweise, die sie an den Tag legten, war diese wahnsinnige Gier nach Fleisch. Lebendem Fleisch. Versuche, die Infizierten mit Schweine- oder Hühnerfleisch zu füttern, waren vergeblich. Die größte Sorge der Fabrikleitung war, dass die Eingesperrten sterben könnten. Nicht an der Krankheit an sich – da wurde man nicht müde, von einer baldigen Heilung zu sprechen – sondern an Hunger oder weil sie sich gegenseitig verletzten. Diese Sorge löste sich in Luft auf, als am Zaun Infizierte auftauchten, die Verletzungen aufwiesen, mit denen sie eigentlich weder stehen noch laufen können sollten, im Gegenteil: Sie müssten tot sein. Die hingeworfenen Fleischbrocken wurden nicht angerührt und vergammelten überall auf dem Gelände verteilt. Danach sah man häufiger tödlich Verletzte und die Fütterungen wurden eingestellt.
Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als sie einen Schrei hörte. Dann einen zweiten. Das kam von innerhalb des Zauns. Sie rannte los, in Richtung Tor. Im Gehege links von ihr bewegte sich etwas hinter dem Zaun. Schnell, schneller als der torkelnde Gang der Infizierten. Sie gab mehr Gas und erreichte keuchend das Tor. Ihr Kollege Michael hatte ebenfalls bemerkt, dass etwas nicht stimmte und stand breitbeinig ein paar Meter vor dem Tor, seine Waffe im Anschlag. Als er sprach, wendete er den Blick keine Sekunde vom Gehege ab.
„Da passiert irgendwas.“
Martina positionierte sich neben ihn und entsicherte ihre eigene Waffe. Sie starrten eine Weile in die Dunkelheit hinter dem Zaun.
Kurz nach dem Unglück war man noch dagegen gewesen, die Infizierten einzusperren. Doch schon bei den ersten Untersuchungen hatte sich gezeigt, dass sie eine Gefahr darstellten. Alles Menschliche, Soziale schien ausgelöscht: Die Infizierten attackierten das zu ihrer Pflege bestellte medizinische Personal, immer auf der Suche nach Nahrung. Schließlich hatte man ein paar abtransportiert, damit sie in der Sicherheit von Speziallabors untersucht werden konnten. Martina und ihre Kollegen hatten den Auftrag erhalten, die restlichen eingesperrten Infizierten zu bewachen. Zum Schutze der gesunden Bevölkerung durfte niemand das Werksgelände verlassen. Um keinen Preis. Ob Chancen auf eine Heilung bestanden oder nicht – sie hatten Befehl im Notfall von der Schusswaffe Gebrauch zu machen.
Martina war darüber nicht begeistert. Sie war Polizistin, keine Jägerin. Und als Polizistin schoss man nicht einfach wild in der Gegend herum. Ihr Bauchgefühl sagte, dass sie den Eingesperrten helfen und die Verantwortlichen für die Katastrophe finden müsste. War das nicht das, was Polizisten taten? Anderen helfen und Verbrecher schnappen? Die Entscheidung, Polizistin zu werden, hatte sie mit elf Jahren nach dem Tod ihrer Eltern getroffen. Es war ein Raubüberfall gewesen. Die beiden Täter hatten ihre Eltern nach dem Kino im Parkhaus angesprochen und Geld verlangt. Leider war ihr Vater schon immer recht starrköpfig veranlagt, sodass er sich weigerte und zum Angriff überging. Die Räuber waren jünger, fitter und stärker als ihr Vater, trotzdem soll er ihnen laut Polizei einen ordentlichen Kampf geliefert haben. Als seine Ehefrau ihm dann auch noch zu Hilfe kommen wollte, zog einer der Räuber ein Messer und rammte es Martinas Mutter in den Bauch. Das hatte dem Kampf scheinbar die entscheidende Wendung verliehen. Ihr Vater brach zusammen und starb noch an Ort und Stelle unter den Tritten der Angreifer. Dann räumten sie ihm und Martinas schwer verletzter Mutter die Taschen aus und verschwanden.
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