Als sie sich umdrehte, um aus der halb geöffneten Stalltür ins Freie zu stürzen, traf sie die erste Angriffswelle. Die Hühner pickten mit aller Wucht wie wild auf Gerdas nackten Waden ein, die ungeschützt unter ihrem Kittel herauslugten.
Die Henne Lisa hatte sich Gerdas Zehen vorgenommen, die aus den löchrigen Pantoffeln wie Köpfe übergroßer Würmer aus ihren Löchern schauten. Der Zehennagel von Gerdas linkem Fuß wurde so schon fast pulverisiert von Lisas Picken.
Rebecca hackte wie wild auf die Knöchel ein und Helmuth nahm immer wieder Anlauf, um dann mit einem gewaltigen Satz, raketengleich und mit vorgestreckten Kopf, seinen geschärften Schnabel in Gerdas dicken Hintern zu versenken.
Das alles wurde begleitet von einem wahren Konzert an Kampfgeschrei. Die Federn flogen nur so, und der Staub wirbelte auf und hüllte das ganze Kampfgetümmel in dichten Nebel.
Immer wieder hörte man Hemuths Kampfschrei „Kiaaaaaiii“, gefolgt von einem lauten „AUUUUUAAA“ von Gerda.
Helmuth nahm erneut Anlauf. Nur zwei Armlängen von Gerdas Po entfernt, setze Helmuth erneut mit dem, wie eine Pfeilspitze vorgestreckten Schnabel, zu einem gewaltigen Hechtsprung an. Ziel der Attacke: „Mitte Po“ von Gerda.
Zerzaust und geschunden konnte sich Gerda endlich aus dem Hühnerstall retten. Hinter ihr fiel krachend die Tür ins Schloss. Im Stall krachte Helmuths Schnabel ins Holz der wieder geschlossenen Stalltür, genau da, wo gerade noch Gerdas Po gewesen war.
In Gerdas zerzausten Haaren hingen Federn und Reste von Stroh und Hühnermist. Auf ihrer vom Kampf schwitzigen Haut legte sich der feine Staub. Gerda sah schon bald aus wie in Gips gegossen. Es war ein Jammer, sie anzuschauen.
Hinter Gerda schwang langsam und leise knarzend die Stalltür auf. Mittig in der Tür steckte Helmuth mit seinem Schnabel wie ein dicker Pfeil im Holz. Gerda nahm die sich öffnende Tür im Augenwinkel wahr, und sie sah Helmuth, der jetzt langsam einknickte und wie ein nasser festgenagelter Sack an der Tür hing.
All die eben nicht geschrienen Schreie platzten jetzt aus Gerda heraus. Zerschunden und plärrend stürmte sie zurück zum Haus, vorbei an Kurt dem Hofhund, der sich die Pfote vor die Augen gelegt hatte und darunter vorsichtig hervorlugte, um seinem Frauchen mit kurzem bedauerndem Winseln nachzusehen.
Gerda stolperte in die Küche und nahm sich erst mal einen dicken Schluck aus der Schnapsflasche, die dort für alle Fälle immer parat stand. Dabei stemmte sie die freie Hand in die Hüfte. Dann knallte sie die Flasche auf den Tisch.
Hein schreckte hoch. „Warste im Hühnerstall?“, wollte er überflüssiger Weise wissen.
Gerdas Blicke trafen ihn wie Rammböcke.
Auch an diesem Morgen gab es keine Spiegeleier zum Frühstück!
Die kommende Nacht - Jetzt weiß er’s
Der Wecker schrillte diesmal nicht. Bauer Hein hatte noch kein Auge zugetan. Ganz langsam schob sich Heins Kopf aus der warmen Bettdecke, unter die er sich verkrochen hatte, als er zu Bett ging.
Gerda schnarchte neben ihm ganz ruhig aber dafür umso lauter. „Chrpühhhhh, chchrrrr.“ dann folgte ein kurzes Schmatzen und dann wieder „Chrpühhhhh, chchrrrr“, kein Zweifel, Gerda schlief tief und fest. Ihr geschwollener linker Fuß lugte unter der Bettdecke hervor.
Sie hatten keinen Arzt gerufen. Der hätte eh nur gefragt, wie das denn passiert sei. Geglaubt hätte er die wahre Geschichte bestimmt nicht. Hein hätte Gerda anschließend wohl in die Nervenklinik bringen müssen. Ne, da haben sie den Fuß und besonders den dicken Zeh eben selber versorgt.
Nur Gerdas Po war noch ärger in Mitleidenschaft gezogen worden. Helmuth hatte ganze Arbeit geleistet. Das musste man dem alten Hahn lassen. Gerdas ganzer Po war bedeckt von blauen Flecken und Wunden von Helmuths raketengleichen Angriffen.
Langsam, ganz behutsam, schälte Hein sich schlaftrunken aus dem Bett. Seine Füße fanden sofort die Pantoffeln, die er nur unweit von seinem Nachttopf entfernt abgestellt hatte.
Diesmal ging Hein an der Küche vorbei direkt in den Hof. Kurt ließ nur ein unwilliges Knurren hören, rührte sich jedoch nicht von der Stelle. Neeee, Kurt wollte auf keinen Fall Bekanntschaft mit Raketen-Helmuth machen. Das war klar.
„Dann bleib eben liegen, du feiger Hund“, knurrte Hein.
Langsam, fast geräuschlos, schlich Hein zum Hühnerstall und schaute vorsichtig durch die Ritzen der Holzplanken der nur flüchtig zusammengezimmerten Stallwand.
Der Stall war schwach erleuchtet. Irgendwo in seiner Mitte gab es eine geheimnisvolle Lichtquelle, die den ganzen Stall in ein schimmerndes feuriges Rot tauchte.
Am Rand saß Hertha auf ihrem Gipsei und versuchte, es -wie in all den vergangenen Jahren zuvor- vergebens auszubrüten.
Vor ihr stand Helmuth und schaute Hertha kopfschüttelnd an. „Kannst du mal kurz aufhören mit Brüten, liebste Hertha? Wir brauchen jedes Huhn, sonst ist es bald aus mit uns und auch mit deinem Gipsei.“
Hertha schaute Helmuth böse an.
„Ich meine natürlich, - mit deinem Küken-“, verbesserte sich Helmuth. Hertha bestand darauf, dass irgendwann mal ein Küken aus ihrem Gipsei schlüpfen würde.
Helmuth zog Hertha mit in die Mitte des Hühnerstalls. Jetzt konnte Hein sehen, was den Raum in dieses rote Licht tauchte. In der Mitte vor den Nestern steckte ein Kristall fest im Boden. Von ihm ging ein gleißendes Licht aus, so dass man nicht direkt hinschauen konnte, ohne dass die Augen schmerzten.
Hein hörte, wie Helmuth seine Hühnerschar zum Zuhören aufforderte, denn alle Hühner gackerten wie wild aufgeregt durcheinander.
„Würdet ihr mal bitte aufhören mit dem Gegacker? Ihr benehmt euch ja wie dumme Hühner!“
Ein Aufgackern der Empörung wogte durch den Hühnerstall. Was dachte sich dieser neunmalkluge Hahn eigentlich.
„Meine lieben Hühner, wie wir alle wissen, befinden wir uns in großer Gefahr. Wir wissen das, seit wir denken können. Und denken können wir, seit dieser Kristall uns vor einigen Tagen die Erleuchtung gebracht hat.“
Einige Hühner wurden unruhig. Einige meinten sogar, man solle den Kristall zerstören.
„Wir sollten dieses Teufelsding zerschlagen und seine Splitter ganz tief einscharren im Boden. Er hat uns doch nur die Angst gebracht.“
Einige Hühner gackerten leise Beifall.
„Vorher war es doch viel schöner, als wir nicht wussten, was die Bäuerin mit dem Küchenbeil macht oder was mit unseren Eiern passiert. Lieber dumm sterben als gescheit vor Angst zittern.“
Obwohl einige jetzt noch lauter Beifall gackerten, war das Thema doch sehr schnell vom Tisch, Jetzt, da sie alle denken konnten, war ihnen auch schnell klar geworden, dass die Bedrohung nicht weg wäre, nur weil man aufhören würde zu denken. Und aufhören zu denken wollte eigentlich auch keiner mehr.
Denn mit dem Denken kam auch die Freude. So freute sich Hertha auf ihr Küken. Helmuth war jetzt Raketen-Helmuth und alle fanden ihn ganz besonders toll. Selbst die schüchterne Lisa gefiel sich sehr gut in der Rolle der Taekwondo-Henne.
Jeder hatte gesehen, wie sie ihre Hühnerkrallen gegen Gerda eingesetzt hatte. Gerda hatte jedes Mal besonders laut gekreischt, wenn Taekwondo-Lisa zugetreten hatte.
Und so konnte jede Henne irgendetwas nennen, das sie jetzt besonders stolz und glücklich machte.
„Also, was schlägst du vor?“, meldete sich Rebecca zu Wort.
„Ja, wie soll das denn jetzt weitergehen?“, stimmten die anderen Hühner mit ein.
„Wir müssen hier weg“, sagte Helmuth etwas schwermütig.
„Und wohin sollen wir gehen?“, gab ein eher schüchternes Huhn aus der hintersten Reihe zu bedenken.
„Und wie bitteschön soll das alles gehen?“, fragte Josephine mit schriller Stimme.
Helmuth starrte Josephine tief in die Augen. Schweigen breitete sich aus im Hühnerstall. Sein rechter Flügel zeigte auf etwas im dunklen Eck des Stalls, das Bauer Hein nicht sehen konnte, auch wenn er sich noch so anstrengte.
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