Ich liebe gut organisierte Arztpraxen. Es dauert nicht lange, und wir sitzen im Behandlungszimmer. Die Ärztin begrüßt Tom so liebevoll, als hätte sie sich den ganzen Tag schon auf ihn gefreut. Die hässliche Spritze hat sie gut verdeckt, so dass Tom sie gar nicht erst zu sehen bekommt. Nach ein wenig Smalltalk, in der die Schwester alles Nötige vorbereitet, sagt sie zu ihm: „Huste doch mal, Tom.“ Er tut wie ihm befohlen, ohne groß darüber nachzudenken und zack, ist die Spritze schon in seinem Oberarm. „Aaau“, beschwert er sich heftig. Doch die Ärztin sagt schnell: „Ist doch schon alles vorbei. Das hast Du gut gemacht, Tom. Möchtest Du ein paar Gummibärchen?“ Er nickt ihr zu mit einem Blick, der sagt: Deshalb verzeihe ich Dir trotzdem nicht! , und will mit seiner kleinen Hand in das Glas greifen. Doch zu seiner Enttäuschung holt die Schwester ihm die Gummibärchen raus. Drei an der Zahl. Ich bin froh, dass er nichts sagt, sondern alle seine Gefühle in seinen Gesichtsausdruck legt. „Heute soll Tom sich etwas ruhig halten und 2-3 Tage keinen Sport machen“, sagt die Ärztin. „Kann sein, dass er sich etwas schlapp fühlt.“ „Ist in Ordnung.“
Im Supermarkt schwächelt Tom schon ein wenig, also kaufe ich nur das Nötigste und wir machen uns auf dem Heimweg. Als wir später alle gemeinsam am Tisch sitzen, stochert Tom lustlos in seinem Auflauf herum und Ben sieht auch nicht begeistert aus. „Schmeckt es Euch nicht?“, frage ich nach. „Doch“, antwortet Ben wortkarg. „Was ist denn los?“, starte ich einen weiteren Versuch. „Darf ich wieder auf die Couch, ich habe keinen Hunger“, meint nun Tom. OK, ich glaube, ich hätte mir das Kochen heute sparen können. Denn jetzt ist auch mir der Appetit vergangen. Ein Blick in das Heft zeigt mir den Grund für seine schlechte Laune: Englisch-Vokabeltest morgen.
Ich bringe Tom zurück auf die Couch und bitte Benny, das Englischbuch zu holen. „Ich will aber auch auf die Couch und fernsehen“, sagt er patzig. „Wir müssen Vokabeln lernen.“ „Mann, das ist total gemein, Tom darf fernsehen und ich muss arbeiten“, pflaumt er mich an. Irgendwie schaffe ich es, ihn zu motivieren und bin heilfroh, als wir die Karteikarten endlich wegpacken können.
„Ich geh´ aufs Trampolin!“, ruft er und ist auch schon durch die Türe. Mal sehen, was Tom macht. Ich glaube, ich trage ihn besser direkt in sein Bettchen. Der kleine Körper ist so auf der Couch eingekuschelt, dass ich ihn erst mal zu mir drehen muss. Ich greife unter seine Beinchen, um ihn zu mir zu ziehen und bemerke mit Schrecken, dass er ziemlich aufgeheizt ist. Ich hoffe, das ist nur von der Decke. Aber ein Griff an seine Stirn und seinen Rücken lässt Böses erahnen. Also suche ich das Fieberthermometer. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass es bisher nur erhöhte Temperatur ist, und das bestätigt dann auch das Thermometer. Hoffentlich bleibt es dabei. Tom ist so fest eingeschlafen, dass er gar nicht mitbekommt, wie ich ihn in sein Bett bringe.
Was mache ich denn, wenn er morgen früh wirklich Fieber hat? Auch wenn meine Chefin Rechtsanwältin ist und weiß, dass ich zu Hause bleiben kann, wenn mein Kind krank ist, sieht die Realität ganz anders aus. Sie würde es zwar akzeptieren, es aber nicht sehr gerne sehen. Ich frag´ lieber mal nach, ob meine Mutter notfalls morgen früh kommen könnte.
„Die is beim Kejeln, die kütt erst um zehn no Huss“, ist die Antwort meines Stiefvaters. „Hat sie denn ihr Handy mit?“ „Klar, hätt se dat mit, et is äver nit ahn. Damit dä akku jeschont witt. Dat mäht se nur ahn, wenn se et bruch.“ Manchmal frage ich mich echt, wofür wir ihr das geschenkt haben. „Weißt Du denn zufällig, ob sie morgen früh etwas vorhat?“, hake ich noch einmal nach. „Wejs ich nitt. Muss de se selves froore.“ Danke für Ihre Hilfsbereitschaft hätte ich am liebsten gesagt. Aber es hilft ja nicht. „Dann rufe ich nachher nochmal an. Oder sag ihr, dass sie mich mal anrufen soll.“ „Jo, tschö.“ Damit ist das Gespräch beendet.
Als ich auflege, erschrecke ich mich fast zu Tode, weil im gleichen Augenblick das Telefon klingelt und Ben die Lautstärke auf „maximal“ eingestellt hat. „Sommer“, melde ich mich etwas gestresst. „Hallo Frau Sommer. Dreckmann hier. Ich wollte mal nachhören, ob Sie am Freitagabend arbeiten können? Eine Kellnerin ist krank geworden und wir haben eine Geburtstagsfeier.“ Oh mein Gott, wäre ich doch nicht dran gegangen. Schnell die Gedanken sortieren.
„Ich muss mal an meinen Kalender gehen, kleinen Augenblick.“ Das verschafft mir etwas Luft. Freitag, was war denn da. Erst mal hoffe ich, dass Tom dann wieder fit ist. Eigentlich will ich ja – wenn überhaupt – nur an den Papa-Wochenenden arbeiten. Das aber ist mein Wochenende. Ach ja, Freitag wollte ich mit Lissy zum Badminton. Ach, alles Mist. Ich bin hin- und hergerissen. Geld ausgeben für mein Vergnügen oder Geld verdienen für Bens Klassenfahrt oder mal ein Essen bei McDonalds.
Die Vernunft siegt schließlich und ich sage zu. „Und wie sieht es Samstag aus? Können Sie da auch?“ „Nein, Samstag geht leider nicht!“, kommt wie aus der Pistole geschossen. Meinen Abend mit Ben darf ich auf keinen Fall opfern. Das ist mir einfach zu wichtig. „Na gut, mit Freitag helfen Sie uns schon sehr. Geht 18.00 Uhr?“ „Ja, das klappt, dann bis Freitag.“
Jetzt muss ich an die frische Luft meinen Kopf durchpusten lassen. Tief einatmen. Das entspannt. Wow, die Abendluft riecht wirklich gut. Es hat wohl zwischendurch kurz geregnet und die Luft gereinigt, das habe ich gar nicht mitbekommen. Das feuchte Gras sieht verlockend aus. Ich ziehe meine Socken aus und spaziere langsam und gemütlich an der Mauer entlang, die den Hof zur Südseite hin umschließt. Die Pfingstrosen haben ihre ersten Blüten geöffnet, in einem zarten Rosaton mit einem kräftigen Farbklecks in der Mitte. Da sie so herrlich duftet, breche ich mir eine einzelne Blüte ab, um sie in einer Vase in mein Schlafzimmer zu stellen. Ich genieße diese abendliche Stille. OK, fast Stille. Man hört die quietschenden Federn des Trampolins und Bens Laute dazu.
„So, mein Großer, es ist Zeit fürs Bett!“ Wie üblich versucht er, noch mehr Zeit zu schinden oder mich dazu zu bewegen, mit auf´s Trampolin zu kommen, doch für heute reicht es mir wirklich. Wer weiß, wie die Nacht mit Tom wird. Also muss ich hart bleiben und nehme ihn mit ins Haus. „Ab unter die Dusche, ich komme gleich hoch.“ Wenn ich mich hier so umsehe, habe ich das Gefühl, gegen Windmühlen zu kämpfen. Jeden Abend kann ich das Haus aufräumen und am nächsten Abend sieht es aus wie ein Schlachtfeld. Die Englischsachen noch auf dem Küchentisch, die nassen und dreckigen Kindersachen, die Reste vom Kochen…. Wie kriegen andere Frauen das denn hin und sitzen pünktlich um 20.00 Uhr bei den Nachrichten auf der Couch und sehen anschließend ganz entspannt – natürlich ohne Unterbrechung – ihren Tatort? Mein Tatort Küche reicht alleine aus, um das Abendprogramm zu füllen.
Komm Annie, jammern hilft nicht, Du machst das schon. Ist ja bald Wochenende. Was, heute ist erst Dienstag? Auch gut, nur nicht den Kopf hängen lassen. Ich weiß ja, wofür ich das tue. Es dauert auch nicht lange, dann habe ich mich selbst genug motiviert, um mich wieder ins Chaos zu stürzen. Ben ist im Bett, die Küche blitzt, Wäsche habe ich heute Gott sei Dank keine gemacht, die jetzt noch aufgehängt werden müsste. Mist, ich habe keine Alternative besorgt, falls meine Mutter nicht kann. In diesem Augenblick klingelt auch schon das Telefon. „Hallo Annie, Hans hat gesagt, dass ich Dich anrufen soll.“ Gott sei Dank, die rettende Stimme. Und ich habe Glück, sie kann morgen früh kommen. Dann kann Tom sich erholen und die Zeit mit seiner Omi genießen. Beruhigt gehe ich ins Bett.
„Mama“, ruft eine weinerliche, zarte Stimme von nebenan. Es ist schon ein Phänomen, früher hätte ein Zug durch mein Schlafzimmer fahren können, ich hätte ihn nicht gehört. Aber so ein zartes Kinderstimmchen lässt jede Mutter sofort hellwach und einsatzbereit im Bett sitzen. Ich gehe zu Tom und fühle seine Stirn. Jetzt führt kein Weg mehr am Fiebersaft vorbei. „Hier mein Schatz.“ Ich reiche ihm einen Becher Wasser und dann den Löffel mit dem dickflüssigen pinkfarbenen Saft. Wie in Trance mit nur halb geöffneten, glasigen Augen, schluckt er den Saft und verzieht das Gesicht, das er gleich darauf in meiner Armbeuge vergräbt. Ich ziehe ihn sanft zu mir herüber, halte ihn fest in meinem Arm und beginne zu summen.
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