„Tom, wir müssen. Komm schnell Schuhe und Jacke anziehen. Hast Du Dein Brot schon in die Tasche gepackt?“ „Nein, wo ist das denn? Und wo sind meine Schuhe? Die blauen.“ „Keine Ahnung, Tom, dann musst Du eben heute die roten anziehen, die passen sowieso viel besser zu Deiner Hose. Komm, wir müssen uns beeilen.“ „Aber ich will die blauen oder die Gummistiefel.“ Aaaaah, ich könnte schreien. Es würde aber nichts helfen. Ich nicke die Gummistiefel ab und hoffe, dass ihn das besänftigt und er schnellstmöglich in meinem Auto sitzt. Währenddessen rattert mein Gehirn im Schnellverfahren. Mutti hat heute einen wichtigen Arzttermin, den würde sie zwar absagen, aber das will ich nicht. Da fällt mir Oma Lotte ein. JA, die würde sofort helfen.
Schnell schließe ich Tom das Auto auf. „Schnall Dich schon mal an, ich muss nur kurz zu Oma Lotte, etwas fragen. Bin sofort wieder da“, rufe ich ihm zu. Gott sei Dank ist schon Licht bei ihr und sie ist auch ziemlich schnell an der Türe. „Hallo Lotte, ich wollte fragen, ob Du heute Mittag vielleicht Tom vom Kindergarten abholen könntest?“ „Ach Kindchen, das tut mir leid, aber ich fahre um 11.00 Uhr mit dem Zug nach Köln, da muss ich mit dem Notar ein paar wichtige Dinge klären. Das kann ich so schnell jetzt nicht verschieben. Hast Du denn noch jemand anderen, der sich kümmern kann?“ „Na klar“, antworte ich überzeugend. „Ich finde schon jemanden, mach Dir keine Sorgen.“
Mit diesen Worten eile ich zum Auto. Nicht zu glauben, Tom ist tatsächlich schon angeschnallt in seinem Sitz. Schwungvoll drehe ich den Wagen im Hof und mache mich auf den Weg in den Kindergarten. „Komm schon“, sage ich mir selber, „das wird schon irgendwie klappen.“ Vielleicht habe ich ja Glück und treffe Max´ Mutter am Kindergarten. Dann frage ich sie, ob sie Tom heute Mittag mitnehmen kann. Ganz fest wünschen. Und daran glauben.
Tatsächlich, da steht Sophies Auto vor dem Kindergarten. Es besteht Hoffnung. Schwungvoll hebe ich Tom aus seinem Kindersitz und wir machen – wie immer, wenn ich es sehr eilig habe – ein Wettrennen, wer zuerst am Kindergartentor ist. „Erster“, ruft Tom quietschvergnügt aus. „Schon wieder. Aber warte ab, ich werde jetzt heimlich trainieren und bald schlage ich Dich!“, antworte ich ihm. Da kommt uns auch schon Sophie entgegen. „Guten Morgen Sophie. Gut, dass ich Dich treffe. Ich bräuchte heute spontan Deine Hilfe. Meinst Du, Tom kann nach dem Kindergarten mit zu Dir kommen? Ich könnte heute zu einer Probearbeit gehen, müsste aber direkt nach der Kanzlei dort hin. So bis 16.00 Uhr vielleicht?“ „Ja klar“, antwortet Sophie, „ist kein Thema. Ich muss Maxi nur um 17.00 Uhr zum Schwimmen bringen. Denkst Du, dass Du dann wieder da bist?“ „Das müsste hinhauen. Ich komme ihn dann auf dem Rückweg vom Restaurant direkt bei Dir abholen. Mensch bin ich froh. Wenn das klappt mit dem Job, dann entspannt sich vielleicht finanziell alles ein bisschen.“ „Dann drück ich Dir die Daumen. Ich muss jetzt auch los. Bis heute Nachmittag.“ „Ja, tschüss Sophie. Bis nachher.“
Erleichtert lasse ich mich in meinen Sitz plumpsen und starte den Motor. Jetzt muss ich erst mal die CD mit den Musical Ballads einlegen, dann kann ich meinen Adrenalinspiegel so langsam wieder herunterfahren, bis ich auf der Arbeit angekommen bin. Hoffentlich ist heute Morgen nicht so viel Verkehr, dass ich wenigstens pünktlich bin.
Die Musik beruhigt mich wirklich und so genieße ich den Anblick der Sonne, die schon über den Baumwipfeln strahlt und den blauen Himmel und bin wieder einmal dankbar, dass wir in so einer tollen Umgebung wohnen. Schöner als hier kann es auch im Urlaub nicht sein. Es sei denn, es geht ans Meer, das ist natürlich etwas Anderes.
Pünktlich mit dem Glockenschlag komme ich zur Tür herein. Frau Dr. Holst ist schon in ihrem Büro und ruft von dort aus motiviert: „Guten Morgen!“. Ich stecke den Kopf in ihr Büro und grüße zurück. „Sie sind aber heute früh dran!“, sage ich überrascht. „Ja, ich habe gleich den Gerichtstermin mit Frau Holler und möchte mich nochmal vorbereiten, damit wir heute mit dem positiven Beschluss für das Aufenthaltsbestimmungsrecht die Verhandlung beenden können.“ „Könnte Frau Holler ihren Sohn dann schon in dieser Woche nach Hause holen?“ „Da gehe ich von aus. Wenn alles so läuft, wie ich es mir vorstelle. Aber diesen neuen Richter kenne ich noch nicht, den kann ich überhaupt nicht einschätzen. Ich bin mir sicher, dass Frau Holler ihre Aufsichtspflicht nicht verletzt hat und sie hat trotz der falschen Darstellung und der emotionalen Belastung vorbildlich mit dem Jugendamt zusammengearbeitet. Ich hoffe wirklich, dass der Richter das auch so sieht und dieses Drama endlich beendet.“
„Ich würde es ihr wünschen. Wenn ich mir vorstelle, dass jemand Lügen in die Welt setzt und man mir deshalb die Kinder wegnehmen würde, ich kann gar nicht sagen, wie verzweifelt ich wäre. Wie muss es denn dem Jungen gehen, der seine Mutter nur in Begleitung einer Mitarbeiterin des Jugendamtes sehen darf, als müsste man ihn vor ihr beschützen.“ „Das stimmt schon, aber dafür sind wir ja da, um den Mandanten zu ihrem Recht zu verhelfen. Sind Sie so nett und machen mir einen Kaffee, ich brauche noch eine halbe Stunde, dann muss ich mich auf den Weg machen. Da es eine lange Verhandlung wird, habe ich für heute keine Beratungstermine mehr angenommen. Sie können dann noch die restlichen Schriftsätze machen, die alten Akten ablegen und pünktlich Feierabend machen.“ „Das passt mir gut, ich habe heute nochmal ein Vorstellungsgespräch, oder besser gesagt, ich kann zur Probearbeit kommen.“
Das wäre der richtige Zeitpunkt, um Frau Dr. Holst um Hilfe zu bitten. Blöd, dass sie heute so unter Zeitdruck ist. Aber nachdem ich den Entschluss gefasst habe, will ich nicht länger warten. „Apropos: Ich hätte da noch ein Anliegen“, beginne ich. Sie sieht von ihren Unterlagen auf und mich ungeduldig an. Entschlossen setze ich mich und berichte ihr von meinem Vorstellungsgespräch und diesem unglaublichen Zwischenfall. Frau Dr. Holst ist völlig außer sich und man sieht ihr an, dass sie schon bei der Vorstellung die gleiche Wut packt wie mich. Leider hat sie nicht die Zeit, sich sofort und ausführlich darum zu kümmern, aber wie erwartet liegt ihr diese Angelegenheit sehr am Herzen und wir beschließen, so schnell wie möglich etwas zu unternehmen.
Da sie immer noch ziemlich aufgewühlt ist, dauert es eine Weile, bis Frau Dr. Holst sich wieder in die Unterlagen vertiefen kann. Als sie das Büro verlässt, habe ich auch langsam meine Fassung wiedergefunden und beginne, meine Ablage zu machen. Ehe ich mich versehe, ist es schon Mittag. Auch wenn ich pünktlich hier rauskomme, ist das zeitlich alles schon sehr knapp mit dem Beerdigungskaffee. Am besten ziehe ich mich gleich hier um, damit ich schon fertig dort ankomme.
So, noch schnell die Akten für morgen heraussuchen und dann ab in die Gästetoilette. Gott sei Dank habe ich die Sachen schon alle bereitgelegt. Mein Service-Outfit hatte ich wirklich lange nicht mehr an. Plötzlich fährt mir ein Schrecken in die Glieder. Hoffentlich passt mir die Hose überhaupt noch. Sofort steht mir der Schweiß auf der Stirn. Was, wenn die Hose nun zu eng geworden ist? Von wegen Kummerspeck angegessen und so. Augen zu und durch, es hilft nicht, Du musst die Hose jetzt anprobieren.
Ich habe mir mal Gedanken gemacht, wie ich in solch einem Moment vermeide, in Panik auszubrechen. Und habe für mich eine Lösung entwickelt, die mal besser und mal schlechter funktioniert. In solch einem Moment frage ich mich: „Was kann mir schlimmstenfalls passieren?“
In diesem Moment ist die Antwort: „Ich sehe aus wie eine Presswurst, habe Luftnot und versuche mit der Bluse den Anblick zu vertuschen. Wenn das nicht klappt, muss ich dort anrufen und sagen, dass ich doch kurzfristig absagen muss.“ Dann brauche ich mich aber wahrscheinlich in der ganzen Stadt um keinen Service-Job mehr zu bewerben. Also was hilft? Wünschen, dass die Hose passt!
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