Als Benny schließlich auch im Bett ist, packe ich die letzten Reste aus der Tasche. Die Krankenversicherungskarte sollte ich besser gleich in die Küche legen, falls wir sie morgen früh doch noch brauchen. Ich öffne den Reißverschluss an der Seite der Tasche – nichts. Seltsam. Ich hatte mit Paul vor langer Zeit vereinbart, dass wir diese immer griffbereit in der Seitentasche platzieren, damit wir im Notfall sofort wissen, wo sie zu finden sind. Ob er sie gebraucht hat und vergessen hat, sie zurückzulegen? Aber dann hätte er doch bestimmt eben etwas gesagt.
Es hilft nichts, ich muss das unbedingt noch heute Abend klären. Da er ja mir gegenüber nicht sehr gesprächig ist, schreibe ich ihm eine SMS: „Wo sind denn die Versichertenkarten? Kann sie nicht finden.“ Es dauert gar nicht lange und seine Antwort kommt: „Bei mir!“ Mist, hat er es doch vergessen? „Benny hat sich wehgetan. Kann sein, dass ich sie morgen brauche.“ Seit Paul aus Bonn weggezogen ist, gestaltet es sich etwas umständlich, wenn mal etwas vergessen wurde. „Dann musst Du zu mir kommen!“, lautet seine Antwort. So ein Blödmann, nur weil er es vergessen hat, muss ich im Zweifelsfall die lange Fahrt machen. Ich antworte nicht so ärgerlich, wie ich gerade bin, weil ich wie immer Stress vermeiden will, den am Ende die Kinder ausbaden müssen: „Falls ich sie brauche, melde ich mich. Bitte pack sie das nächste Mal wieder in die Tasche. Danke.“
Ich hatte die Angelegenheit bereits abgehakt, als Minuten später noch eine Antwort von Paul folgt: „NEIN!“ Was ist denn das jetzt? Wie „nein“? Ich weiß gar nicht, was er meint. Also lese ich noch einmal meine letzte Nachricht. Ich habe doch nur gebeten, die Karten beim nächsten Mal wieder einzupacken. Da ich ihn tatsächlich nicht verstehe, schicke ich ihm eine Nachricht mit zwei Fragezeichen. Dann kommt die Antwort von Paul: „Du musst mich in Zukunft erst um Erlaubnis fragen, wenn Du mit den Kindern zum Arzt gehen willst.“ Hä? Das kann er doch nicht ernst meinen. Ich wollte auch diesbezüglich keinen Stress, daher hatte ich von Anfang an einem gemeinsamen Sorgerecht mit allen Konsequenzen zugestimmt. Obwohl Paul die Arzttermine mit den Kindern bisher überhaupt nicht interessierten. Genauso wenig wie die Schultermine. Das sieht doch aus wie reine Schikane. Um genau das zu bestätigen, setzt er noch eins drauf mit der nächsten SMS: „Ich will, dass Du von mir eine schriftliche Einwilligung holst, bevor Du mit einem Kind zum Arzt gehst.“ „Wie soll das denn funktionieren bei dieser Entfernung?“, frage ich nach. Jetzt platzt mir gleich der Kragen. Mit seiner letzten SMS zu diesem Thema beendet er die Kommunikation: „Das ist DEIN Problem!“
Ich kann das einfach nicht glauben. Eine unfassbare Wut steigt in mir hoch. Paul hat oft genug deutlich gemacht, dass ihn diese Angelegenheiten gar nicht interessieren. Das ist also ein reines Machtspiel. Ich weiß nicht warum, aber plötzlich tauchen wieder die Bilder des Vorstellungsgespräches in meinem Kopf auf. Auch eine Art von Machtspiel. Was denken sich diese Menschen eigentlich? Muss ich mir das alles gefallen lassen? Plötzlich ist die Antwort ganz klar in meinem Kopf: NEIN!
Jetzt ist eindeutig der Punkt erreicht, wo ich mir so ein Verhalten nicht mehr gefallen lassen werde. Mein Entschluss steht fest: Ich werde mich mit aller Macht wehren. Mit aller Macht heißt für mich notfalls auch mit gerichtlicher Unterstützung. Gleich morgen werde ich meine Chefin darum bitten, dass wir gemeinsam gegen diesen Rechtsanwalt vorgehen. Und außerdem wird Paul von mir einen Brief erhalten, der sich gewaschen hat. Ich werde dafür sorgen, dass ich nicht mehr von seinen Launen abhängig bin, wenn es um das Wohl meiner Kinder geht! Oder auch um mein eigenes! Es reicht!
„Guten Morgen, mein Schatz.“ Ich wuschele Benny sanft durch die weichen Locken. „Was macht denn Dein Knie?“ Ich hebe die Bettdecke an, um mir die Schwellung anzusehen. „Tut nicht mehr so weh“, antwortet er und ist erstaunlicherweise schon ziemlich wach für seine Verhältnisse. Ich bin erleichtert, dass sich der Gang zum Arzt heute damit erledigt hat. „Kann ich heute Nachmittag mit Felix auf den Soccer-Court? Wir wollten uns heute verabreden.“ Aha, daher die Motivation. „Ich würde sagen, Du gehst erst mal in die Schule und schaust, wie es Deinem Knie geht und wenn wir heute Nachmittag beide zu Hause sind, essen wir, Du machst die Hausaufgaben und dann entscheiden wir das spontan.“
Man sieht seinem Gesicht an, dass dies nicht die gewünschte Antwort war. „Ach Mann, kannst Du nicht einfach JA sagen?“, kommt prompt zurück. „Ja, könnte ich!“ Ben sieht mich verwirrt an. Er scheint meinen Worten nicht ganz zu trauen und ahnt, dass noch etwas folgt. „Wäre sogar für mich entspannter, ich müsste nicht kochen und keine Hausaufgaben nachsehen sondern könnte mit Lissy Kaffee trinken gehen.“ Wir haben das Thema schon so oft diskutiert, dass ich keine Lust mehr habe, immer Sätze wie Erst die Arbeit, dann das Vergnügen oder die Geschichte mit dem Ponyhof herunterzuleiern. Er versteht mich auch so und knufft mir zur Beendigung der Diskussion seine kleine Faust in die Seite. Na zumindest huscht ein Lächeln über sein Gesicht. „Ich gehe jetzt mit Tom runter, bis gleich.“
Tom schlürft genüsslich seinen warmen Kakao, ich meinen Kaffee und ich bin froh, dass wir die Woche ruhig angehen können. Ich habe es noch nicht zu Ende gedacht, da geht schon das Telefon. Meine Güte, wer ruft denn um solch eine Uhrzeit schon an?
„Sommer“, melde ich mich leicht genervt. „Ja, guten Morgen Frau Sommer“, meldet sich eine freundliche Stimme, „Dreckmann hier. Sie hatten sich doch bei uns für einen Aushilfsjob als Servicekraft beworben, oder?“ Schnell muss ich meine Gedanken sortieren. „Ja, das stimmt, ist schon etwas her und Sie sagten, sie würden sich wieder melden, wenn Sie jemanden benötigen.“ „Genau. Ich weiß, das ist jetzt etwas kurzfristig, aber wir haben heute einen Beerdigungskaffee und bräuchten spontan noch Hilfe. Könnten Sie heute Nachmittag einspringen? Dann könnten wir auch besprechen, ob wir Sie in Zukunft regelmäßig einplanen können.“ Oh Mann, wenn ich jetzt mit zwei Kindern komme, die ich erst noch unterbringen muss, bin ich denen direkt zu kompliziert und unzuverlässig, also ist meine Antwort: „Natürlich, wann soll ich denn da sein?“ „Ja, der Kaffee geht um 14.00 Uhr los, also 13.00 Uhr wäre gut, damit Sie noch beim Eindecken helfen könnten. Geht das?“ „Ja klar. Also dann bis um eins. Ist schwarze Hose und weiße Bluse ok?“ „Ja geht schon, dann sehen wir uns um 13.00 Uhr. Bitte pünktlich!“ „Selbstverständlich“, antworte ich selbstbewusst und lege auf.
Um Himmels willen, wie bekomme ich so schnell jemanden, der sich um die Kinder kümmert? Ruhe bewahren, bis jetzt hat es immer irgendwie eine Lösung gegeben. Das Problem ist nur, dass ich diese Lösung in den nächsten 10 Minuten haben muss, denn dann müssen wir zum Kindergarten und von der Arbeit aus darf ich nicht privat telefonieren. Da ich bis 12.30 Uhr arbeite, muss ich von dort sofort zum Restaurant. Ach ja, dann muss ich die Klamotten ja auch schon mitnehmen. Oh nein, die Bluse ist noch nicht gebügelt. Jetzt aber schnell, das kriegen wir schon irgendwie hin. Es widerspricht völlig meinen Prinzipien, aber heute muss Tom alleine zu Ende frühstücken, und ich baue schnell das Bügelbrett auf, das Telefon schon in der anderen Hand.
„Dies ist der persönliche Assistent von Lissy. Sagen Sie ihm, was Sie wollen, vielleicht ruft sie zurück. PIEP!“ Schon wieder diese blöde Mailbox. „Hey Lissy, ich bin´s, Annie. Ich muss heute nach der Arbeit zu dem Restaurant, wo ich mich beworben habe und brauche dringend jemanden, der Tom vom Kindergarten abholt und zu Hause die Kinder versorgt, bis ich wiederkomme. Ich schätze so gegen fünf. Melde Dich bitte ganz dringend!“ Mist, ich muss noch etwas anderes versuchen, wenn Lissy Spätdienst hat, dann schafft sie das gar nicht. Und wer weiß, wann sie sich meldet! Herrje, ich muss los zum Kindergarten, sonst komme ich zu spät zur Arbeit. Dann muss ich halt – verbotenerweise – vom Auto aus weiter telefonieren, bis ich eine Lösung habe.
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