Mein Wunsch wird erhört, ist gar nicht so schlimm, wie ich dachte, da passt sogar noch ein Brötchen rein. Apropos, ich habe wirklich Hunger. Und mein Brot am Vormittag schon weggeputzt. Eigentlich habe ich gar keine Zeit, mir etwas zu holen, aber wer mich kennt, weiß, dass ich hungrig unausstehlich bin. Richtig aggressiv werde ich dann. Und ich soll den trauernden Angehörigen dann die belegten Brötchen und den Streuselkuchen servieren, ohne sie anzufallen und das Brötchen aus der Hand zu reißen? Das geht gar nicht. Also zwei weitere Wünsche: Die Schranke am Bahnübergang muss auf sein und vor dem Bäcker muss ein Parkplatz frei sein.
Mit diesen Gedanken eile ich zu meinem Auto und mache mich auf den Weg. Also das wird ganz schön knapp, der Zug kommt immer zwanzig vor. Wenn ich nicht kurz vorher durch bin, stehe ich vor der Schranke und habe keine Zeit mehr für den Bäcker. Ich gebe Gas und schaffe es tatsächlich, über die Schienen zu kommen, bevor ich im Rückspiegel die rot blinkenden Lichter erkennen kann. Schwein gehabt. Der Verkehr ist erträglich und so komme ich gut durch das Städtchen. Nur noch hundert Meter und dann kommt auch schon der Bäcker. Und der Parkplatz! Glücklich parke ich ein und sehe durch das Schaufenster, ob zu dieser Zeit viel los ist. Nein, überhaupt nichts. Und warum? Weil heute Montag ist und der Bäcker zu hat! In welchem Kaff lebe ich hier eigentlich? Natürlich haben nicht alle Bäcker bei uns am Montag zu aber natürlich DIESER! Leider bleibt mir keine Zeit mehr, eine Alternative zu suchen, also fahre ich geradewegs zum Restaurant.
Als ich dort ankomme, scheine ich schon sehnsüchtig erwartet zu werden. „Gut dass Sie da sind, Frau Sommer. Wir haben schon eingedeckt, weil wir ein Problem mit dem Bäcker hatten und die Brötchen bis eben noch nicht da waren.“ Ich hätte fast laut losgelacht. „Könnten Sie vielleicht schnell helfen, die Brötchen zu schmieren? Wir sind ein bisschen in Eile“, sagt Frau Dreckmann. „Aber natürlich, das mache ich gerne. Ich komme gerade direkt von der Arbeit und hatte auch ein Problem mit dem Bäcker. Wäre es in Ordnung, wenn ich mir ein Brötchen nehme?“ Da muss auch Frau Dreckmann lachen.
So mag ich das Arbeiten, eine Hand wäscht die andere. Die Stimmung ist prima und ich habe gleich das Gefühl, hier würde ich mich sehr wohl fühlen. In einem Affentempo werden Brötchen geschmiert, gegessen, noch mehr geschmiert, dekoriert und auf silbernen Servierplatten angerichtet. Bevor die ersten Trauernden kommen, stehen auch der Kaffee und der Streuselkuchen bereit. Ich schaffe es sogar, in Ruhe einen Schluck Kaffee zu trinken und einmal durchzuatmen.
Dann öffnet sich die Türe, die ersten Gäste treffen ein, und als ich das nächste Mal auf die Uhr sehe, sind schon zwei Stunden vergangen wie im Flug. Wenn ich ehrlich bin, fühlt sich diese Arbeit nicht wirklich so anstrengend an, wie ich dachte und ich freue mich, dass ich schon um halb vier Feierabend machen kann und dazu noch ein gutes Trinkgeld bekommen habe. So kann ich in Ruhe Tom abholen und bin rechtzeitig zu Hause, wenn Ben kommt.
Als wir zu Hause ankommen, habe ich noch ein paar Minuten, also schmeiße ich ruck zuck den Herd an und zaubere etwas Schnelles auf den Tisch. Für heute müssen Nudeln mit Käsesauce genügen. Määääh , schreckt mich das Gemecker einer Ziege auf. Etwas irritiert schaue ich mich um, und dann fällt es mir ein: Stimmt ja, Ben hat den Klingelton meines Handys umgestellt. Er fand es lustig, dieses Gemecker einzustellen, wenn ich eine SMS erhalte. Sie ist von Lissy. Hatte ich ja ganz vergessen, dass ich ihr heute Morgen einen Notruf geschickt hatte. „Hallo Süße. Bin leider nicht in der Nähe, daher kann ich Dir heute nicht helfen. Ich hoffe, Du findest eine Lösung! Lg Lissy.“ Manchmal wundere ich mich über Mobilfunknetzanbieter. Da wäre ein Brief ja fast schneller gewesen.
„Ja, alles gut“, antworte ich knapp. „Können ja heute Abend mal telefonieren.“ Da geht auch schon die Klingel und Ben steht vor der Türe. „Mama, kann ich mich denn jetzt noch mit Felix treffen?“, sind seine ersten Worte. „Hallo Benny, ich freue mich auch, Dich zu sehen. Hast Du Hunger?“ „Eigentlich würde ich lieber spielen gehen.“ „Komm doch erst mal rein, pack Deine Schultasche aus und komm mal richtig an. Außerdem musst Du zuerst Deine Hausaufgaben machen. Komm setz Dich zu mir in die Küche.“ „Och Mann, ich habe Felix aber versprochen, dass ich komme und Du sagst immer, Versprechen muss man halten.“ Er weiß schon genau, wie er argumentieren kann.
Immer wieder versucht er es, obwohl er weiß, dass ich mich darauf nicht einlassen kann. Nachdem wir gegessen haben breitet Ben widerwillig die Mathesachen aus. Und gleich darauf wie so oft der Standardspruch: „Ich kapier das nicht!“ „Dann zeig doch mal her. Wo genau ist denn das Problem?“ Seine Anstrengungsbereitschaft geht mathematisch gesehen gegen „Null“. Ich sehe schon: Textaufgaben. Textaufgaben heißt für Ben: Er beginnt den Text zu lesen und gibt auf. Sein Kopf schaltet ab, bevor der erste Satz zu Ende gelesen ist. Meist versteht er die Frage schon, wenn er laut vorgelesen hat. Da mein Akku mittlerweile deutlich schwächelt, beschließe ich, das Ganze etwas zu beschleunigen.
Also was hilft? Bestechung. Ich weiß, pädagogisch gesehen völliges No-Go. Aber heute meine einzige Rettung wie mir scheint. „Ich mach´ Dir einen Vorschlag: Wenn Du mir jetzt die erste Aufgabe laut vorliest und wir dann alle drei Aufgaben ohne Unterbrechung zusammen machen, essen wir morgen bei McDonalds.“ „Ja“, schreit er sofort begeistert, „darf ich dann zwei Happy Meals essen?“ „Aber nur, wenn Du jetzt Gas gibst.“ Das lässt Ben sich nicht zweimal sagen. Er fängt an zu lesen: „ Tim läuft auf dem Sportplatz eine Runde (400 Meter) in 2 Minuten “ – „Loser“, kommentiert Benny. „Hallooo? Wie bist Du denn drauf? Lies weiter!“ „Sina läuft in derselben Zeit…..“ Schon während er das laut vorliest, sehe ich wie sich sein Gesicht verändert. Sieht aus, als hätte er eine leuchtende Glühbirne über seinem Kopf. So haben wir die erste Aufgabe schnell geschafft. Nachdem wir uns durch den Rest gequält haben und das Heft endlich zugeklappt ist, schicke ich ein Halleluja in den Himmel.
„Darf ich denn jetzt noch zu Felix?“, kommt prompt seine Frage. „Ach Benny, das lohnt sich doch gar nicht mehr. Es ist jetzt schon so spät geworden. Geh doch einfach noch was raus auf die Fußballwiese. Aber zeig´ mir zuerst noch Dein Hausaufgabenheft.“ „Nö! Keine Lust“, antwortet er bockig. Irgendetwas sagt mir, dass nicht nur die geplatzte Verabredung hinter seiner Laune steckt. „Komm schon, umso schneller kannst Du raus.“ Wutschnaubend holt er es aus der Tasche, schmeißt es auf den Küchentisch und geht hinaus. Auf der einen Seite tut es mir leid, dass Ben sich immer alles gegenzeichnen lassen muss, aber seitdem ist es wesentlich besser geworden mit der Häufigkeit der vergessenen Hausaufgaben. Außerdem nutzen die Lehrer das Heft auch schon mal, um positive Notizen zu seiner Motivation reinzuschreiben.
„Ben hat gut mitgearbeitet“ steht allerdings heute nicht drin. „Ben hatte heute in Mathe wieder keine Hausaufgaben.“ Oh Mist, das habe ich gestern Abend in der ganzen Aufregung gar nicht mehr kontrolliert. Aber andererseits müsste ich mich ja eigentlich darauf verlassen können, dass Paul das auch kontrolliert, wenn er am Wochenende dort ist. Ich bin gerade so sauer und muss mich zusammennehmen, um Ben nicht sofort wieder reinzuholen. Da sehe ich einen weiteren Eintrag im Heft: „Frau Sommer, könnten Sie mich bitte heute Abend anrufen? Frau Dittmann.“ Seine Klassenlehrerin.
Schon wieder. Wie oft habe ich solche Anrufe schon gemacht. Und wie sehr ich sie hasse. Kann denn nicht mal ein Monat ohne eine E-Mail, ein Telefonat oder ein persönliches Gespräch vergehen? So schwer es mir auch fällt, ich versuche mich zu gedulden. Ich lasse Ben eine Weile spielen, bevor ich ihn hereinbitte, um mit ihm zu sprechen. „Möchtest Du erzählen, was heute in der Schule war?“, mache ich den Anfang. „Weiß nicht.“ Das ist bei ihm der höfliche Ausdruck für: Ich will es nicht sagen .
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