»Ich werde ihn in einen heilsamen Schlaf versetzen, der bis morgen andauern wird. Ein Zauberspruch wirkt zuverlässiger als der Tee, auch wenn der Mohnsaft ihn eigentlich in eine tiefe Entspannung schicken müsste. Wenn er seelisch zu angespannt ist, kann die Wirkung durchaus verzögert einsetzen oder ganz aufgehoben werden. Am morgigen Vormittag komme ich wieder her, um ihn näher zu untersuchen«, erläutert sie ihre Absicht. Der Pfleger nickt Zustimmung und beobachtet dann interessiert, was sie macht. Cloe tritt näher zur Liege und breitet beide Arme über den Liegenden, der ihr mit seinen Augen folgt. Zuerst murmelt sie »Addormito«, worauf Cian sofort in einen ruhigen, tiefen Schlaf fällt. Gleichzeitig erlischt die zweite Lichtkugel, die dieser herbeigerufen hatte. Dann folgt »Cum ri buidseachd«, was ihm helfen soll, einem möglichen dunklen Fluch zu widerstehen. Zum Abschluss spricht die Elfe »Salvus«, was sofort ein goldenes Gleißen von ihren Händen auf den Verletzten fließen lässt. Mit »Beatha« ruft sie erneut das Flirren hervor. Nach einiger Zeit hebt Cloe das auf, um sich nicht unnötig in Gefahr zu begeben. Sie erinnert sich gut daran, wie es ihr erging, als sie nicht aufhören wollte, Lebensenergie auf ihre Mutter zu übertragen. Das hätte auch ihr beinahe das Leben gekostet. Der Pfleger blickt sie verständnislos an, weshalb sie ihr Tun erläutert.
»Cian wird jetzt tief schlafen und erst durch einen Gegenzauber wiedererwachen. Die anderen Sprüche dienen seiner Heilung. Morgen wissen wir, ob ich ihm helfen konnte. Du musst heute Nacht nicht am Bett wachen. Er wird friedlich darin liegen.«
»Er wird nicht aufstehen und herumlaufen? In seiner Verwirrtheit könnte er sich schlimm verletzen, weil er ja nicht weiß, wo er sich befindet.« Die Besorgnis des Pflegers ist deutlich zu hören, doch die Elfe beruhigt ihn so weit, dass er sich darauf einlässt, nur jede Stunde nach dem Patienten zu schauen.
»Auch wenn du von deiner Magie überzeugt bist, sicher ist sicher!«, fügt er hinzu.
Cloe folgt nun Arawn, der sie mit in die Bibliothek nimmt. Diese befindet sich in der ersten Etage des großen Turmes, und ist der ganze Stolz seines Besitzers.
»Schau dir diese Vielzahl an!«, fordert er, wobei die Hände auf die rundherum in hohen Regalen angeordneten Büchern deuten. »Nur der Herrscher der Darkwings besitzt auch eine Sammlung, die aber nicht halb so umfassend ist.« Die Elfe dreht sich um ihre Achse.
»Das ist wirklich beeindruckend«, stellt sie fest. Dass die Bibliothek Kayleighs im geheimen Wald noch umfangreicher ist, sagt sie nicht. Sie möchte den freundlichen Fairwing nicht in seinem harmlosen Stolz verletzen. »Auf der Insel der Elfen gibt es also sonst keine Bücher?«, fragt sie erstaunt.
»In manchen Haushalten mag es ein paar geben, aber richtige Büchersammlungen sind es nicht. – Wenn du magst, darfst du gerne darin stöbern, nachdem wir unsere Abendmahlzeit in der Halle eingenommen haben.« Sie verlassen den Raum und den Turm, um zu einem großen Gebäude zu gehen. Innen erblickt Cloe vier lange Tischreihen, auf denen Tabletts mit Fleisch, Körbe mit Brot und Tonkrüge mit Getränken stehen. Die Menschen auf den Bänken unterhalten sich während des Essens miteinander. Der glatte Steinboden ist mit Stroh und trockenen Binsen ausgestreut. Kräuter befinden sich nicht darunter.
»Damit sie nicht von den Düften der Speisen ablenken«, vermutet die Elfe. Das Stimmengewirr der vielen Menschen verstummt, sobald der eingetretene Herrscher bemerkt wird.
»Willkommen daheim«, wird er sofort aus allen Munden gegrüßt. Er verbeugt sich lächelnd und stellt Cloe vor.
»Sie ist eine der letzten Südelfen und beherrscht Magie! Wie ihr sicher schon gehört habt, liegt in unserer Krankenstation ein Mann, den sie gesucht hat. Er ist ebenfalls ein Elf, der zaubern kann. – Diese junge Frau hat mich und meine Begleiter vor einem großen Rudel Wölfe beschützt!«, stellt er sie als seine Retterin vor. Cloe ist verlegen.
»Ich habe dich nur gewarnt und euch dann lediglich unterstützt. Ihr wärt ohne meine Hilfe sicher nicht unterlegen.« Trotz oder gerade wegen ihrer Bescheidenheit erschallt lauter Beifall. Mit rotem Kopf folgt die Elfe Arawn, der ihr in die Seite stößt.
»Sei nicht so bescheiden, du hast dieses Lob mehr als verdient!«
Das Abendessen dauert länger, als Cloe gedacht hätte. Der Herrscher wechselt oft seinen Platz, um mit allen Anwesenden zu sprechen und manchmal kurz mit einem Becher Wein anzustoßen. Viele Kinder sind auch vertreten, die je nach Alter und Temperament entweder brav bei ihren Eltern auf Bänken sitzen oder spielend herumrennen. Mit ihnen tauscht Arawn kleine Scherze aus oder streicht über deren Haare, wenn sie an ihm vorbeilaufen. Die Elfe folgt ihm verwundert. Der Fairwing ist offenbar ein beliebter Herrscher. Cloe begegnet auch den vier Begleitern, mit denen sie hergeritten sind. Deren Frauen sitzen neben ihnen und zwei Kinder spielen zu ihren Füßen. Die Gattinnen fragen sie interessiert nach ihrer Heimat und den dortigen Gebräuchen aus. Cloe ist froh, als sie endlich die Gemeinschaft verlassen kann.
»Du darfst dich frei in der Festung bewegen«, antwortet Arawn auf ihre Frage. »Ich muss noch etwas Zeit hier verbringen. Jedes Mal, wenn ich nach einer Abwesenheit zurückkomme, wollen sich meine Freunde mit mir unterhalten. Das kann die halbe Nacht dauern. Du kennst ja den Weg in die Bibliothek, oder?« Cloe nickt dankbar. Sie brennt darauf, in den Büchern nach möglichen Hinweisen auf Drachen oder den Feuervogel zu suchen.
Finn zweifelt, ob sein Freund wieder vollkommen hergestellt ist. Er befürchtet einen möglichen Rückschlag, eine erneut auftretende Vergesslichkeit. Soll er also besser bei Ryan bleiben? Andererseits sorgt er sich um die ihm anvertrauten Männer der Eliteeinheit. Nach längerer Diskussion wechselt er doch allein zu seinen Kämpfern, nimmt dem Freund aber das Versprechen ab, sich bei dem kleinsten Zeichen von Gedächtnisschwäche mit ihm in Verbindung zu setzen.
In der alten Königsstadt laufen die Vorbereitungen zur Abwehr des bevorstehenden Angriffs der Dubharan auf Hochtouren. Harald, der Kommandeur der Stadtsoldaten, ist froh, dass Ryan ihn unterstützt. Sie decken Schäden in den Verteidigungsanlagen auf und beheben sie. Der Elf erreicht mit Zauberkraft mehr, als die vorhandenen, unzureichenden Hilfsmittel leisten können. Die Stadtmauer umschließt die Stadt nicht mehr an allen Stellen. Die Lücken werden innerhalb weniger Tage geschlossen, was ohne den Elfen Wochen gedauert hätte.
Die Bewaffnung der Soldaten ist in gutem Zustand. Da aber Freiwillige in großer Zahl die Kämpfer unterstützen wollen, benötigen sie zusätzliche Waffen. Mit »Renovo« richtet Ryan ausgemusterte, schartig oder stumpf gewordene Exemplare. Trotzdem arbeiten die Schmiede mit Eifer an der Herstellung von neuen Schwertern und Speeren. Auch die Bogenmacher und Pfeilhersteller sind rund um die Uhr beschäftigt. Der Vorrat an Geschossen kann nicht groß genug sein, um das riesige Heer abzuwehren, ist der Elf überzeugt. Deshalb bringt er mittels magischem Sprung immer wieder Nachschub an geeigneten Zweigen aus den Wäldern der weiteren Umgebung der Stadt. Hilfe bekommt er dabei von vielen jungen Männern. Die Befiederung der Schäfte erfolgt mit Federn von Gänsen und Krähen, die in Unmengen benötigt und von Kindern gesammelt werden.
Die mit dem Kriegshandwerk nicht vertrauten Stadtbewohner üben sich im Umgang mit den ungewohnten Waffen. Außerhalb der Stadtmauern trainieren die wenigen, die über ein Pferd verfügen. Sie handhaben Lanzen oder Pfeil und Bogen, um Angriffe auf andere Berittene, aber besonders auf Kämpfer zu Fuß, zu üben, da das Heer der Dubharan vornehmlich aus Fußsoldaten besteht. Harald beobachtet diese Männer mit Kopfschütteln. Die verbleibende Zeit bis zum erwarteten Angriff ist nicht ausreichend. Bis auf einzelne Ausnahmen befinden sich unter den ungeübten Städtern keine Männer, die für den Kampf außerhalb der Mauern geeignet sind. Der Kommandant entscheidet deshalb, dass sie sich nur im Umgang mit Pfeil und Bogen üben sollen. Sie werden von der Stadtmauer herab und im Schutz der Wehrgänge stehend, in die Reihen der Angreifer schießen. Selbst wenn nicht jeder Schuss tödlich sein wird, kann allein die Vielzahl der Bogenschützen für Verwirrung unter den Gegnern sorgen. Der Nahkampf soll den Stadtsoldaten und den hoffentlich bald eintreffenden Unterstützern der Mittel- und Nordelfen, aber auch den Menschen aus dem Norden, vorbehalten sein. Es nützt nichts, wenn die Stadtbevölkerung voller Mut und Verzweiflung gegen den Feind anrennen, um von diesem mit Leichtigkeit getötet zu werden.
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