Der Exorzist wartete geduckt auf ihn. Das war nicht meine Mutter , sagte er sich. Du bist hier in einem – ja was eigentlich?
Wieder wandte sich der Werwolf ihm zu. Der graue Schatten sprang durch die Luft. Ein hellerer, aschhaariger Schatten sprang ihm entgegen. Ihre massigen Körper prallten gegeneinander. Berserkerwut entfesselte sich auf beiden Seiten – und doch blieb die grausige Szenerie unheimlich still.
Caladir erinnerte sich an viele erduldete Schmerzen, sein Leib wurde regelrecht damit überflutet. Ihm schwand die Kraft, der Wille weiter zu kämpfen. Er erlahmte.
Ulf Varen umklammerte Caladirs Hals und hob ihn in die Höhe. Ein mächtiges Wolfsgeheul durchstieß die lautlose Kampfszene. Caladir klammerte sich an den Arm des Untiers, hatte aber keine Kraft mehr sich zu befreien. Sein zerschnittenes Gesicht war verzerrt, die Beine baumelten in der Luft, selbige drohte ihm auszugehen. Der Werwolf drückte zu und seine Klauen drangen tiefer in Caladirs Hals ein.
Dann war da wieder Dunkelheit.
Der Disput mit Ulf Varen dauerte Tage und Nächte an. Dabei war Zeit bedeutungslos geworden. Jedes hervorgerufene Gefühl von Angst, Verzweiflung und Niederlage nährte das Alpwesen.
Noch einige Male tötete der Werwolf eine Frau vor den Augen des Eisexorzisten. Einmal war es ein kleines Mädchen – deren Schutzbefohlener der Eiswolf einst kurze Zeit gewesen war. Ein anderes Mal war es eine Zauberin, mit der er für einige Jahre eine Liaison gehabt hatte, bevor sie ihm Grenzkampf um Ghedina fiel. Dann die mütterliche Agnes-Merle, eine Hohepriesterin der Göttin Gaea-Lilith, deren Heilkunst ihm in einem anderen Kampf, in dem er schwer verwundet worden war, geholfen hatte.
Dann kämpften Teufelswolf und Eiswolf verbissen miteinander. Ein anderes Mal verhöhnte ihn der Vagabund Ulf Varen, spielte ihm Klagelieder vor und demütigte ihn mit seiner Zärtlichkeit, der Caladir immer wehrlos-erstarrt ausgeliefert war. Doch jeder Disput mit Ulf ging zum Nachteil Caladirs aus.
Caladir stand, nun selbst die Eiche, inmitten der Lichtung. Wehrlos ohne seine Waffen. Schutzlos gekleidet in Stiefeln und Hose, die in Fetzen an seinem narbigen, zerschundenen Körper herabhingen. Aber sein eiserner Wille sich allem zu stellen, was auch auf ihn zukommen mag, war ungebrochen. Seine Pupillen der weißfahlen Augen waren zu schmalen Schlitzen verengt, die den finsteren Rand der Lichtung absuchten.
Er hörte sie erst, bevor er sie sah. Rasseln von Ketten, schaben von chitingepanzerten Beinen und den Donner schwerer Schritte. Er hörte die Wesen schmatzen, jaulen, fauchen und klagen. Hörte sie trommeln, geifern, knurren und fluchen. Und dann kamen sie aus dem finsteren Dickicht auf die arenarunde Waldlichtung. In den hellen Schein des Mondes hinein traten Hunderte schauriger Wesen: SEINE Bilanz des Todes der letzten Jahrzehnte!
Spinnenbeinige Kikimoras, groß wie Elefanten traten auf ihn zu, ebenso tumbe Zombies, klappernde Skelette und vollbusige Bruxas. Zähnefletschende gorillaartige Striegen und verfluchte Geisterkönige auf feuerspuckenden Rössern galoppierten auf ihn zu. Algenbehangene Wassermänner, schwabbelige Riesenwürmer und geifernde Ghule wälzten sich ihm entgegen. Werwölfe, Höllenhunde, riesige Mutanten in steinernen Rüstungen, Werkatzen und sogar einen geflügelten Dämon konnte er ausmachen. Haarige Trolle, brüllende Oger und zangenbewehrte Crawler stampften auf ihn zu. Über ihnen kreisten kreischende Harpyien, zwei Greife und sogar eine drachengleiche Wyverne. Stein- und Feuergolems und fratzenschneidende Gargoyle warteten auf den Befehl des Angriffs.
Dicht an dicht gedrängt umringten Hunderte Ungeheuer den Eisexorzist. Immer wieder drehte er sich im Kreis und behielt so die Monstermasse im Auge, die bis auf wenige Meter ihn umzingelt hatte.
Direkt vor ihm stand der Vagabund Ulf Varen. Er ging den Rand der lauernden Monster entlang und streichelte da mal einen Höllenhund oder eine kieferklappernde Kikimora. “Welch eine Ehre dir zuteilwird. Sie sind alle wegen dir gekommen, Caladir e'Yander – Eiswolf aus der Nebelburg!“
Unbemerkt musste Ulf Varen ein Zeichen gegeben haben, denn plötzlich sprangen eine Striege, eine Kikimora und ein Gargoyle in die Mitte auf Caladir zu.
Dem steinernen Fratzenwesen wich er aus und sprang der spinnengleichen Kikimora auf den Rücken und teilte unterwegs der rotmähnigen Striege mitten im Sprung einen Faustschlag ins Gesicht aus. Kaum gelandet verdrehte er der Kikimora den Kopf und brach dem Wesen das Genick. Schon sprang er dem Gargoyle entgegen, aber hatte die Striege in seinem Rücken nicht vergessen. Er nutzte den Schwung, trat den Gargoyle in die Monstermenge und flog schon der Striege entgegen, die seine Fäuste ein weiteres Mal zu spüren bekam.
Der Eiswolf dachte nicht mehr – er reagierte und agierte nur noch, so wie es ihm gelehrt worden war. Eine Kampfmaschine pure excellions.
Weitere Ungeheuer lösten sich aus dem Kreis und griffen den Exorzist an. Er schlug viele beim ersten Ansturm nieder. Fiel ein Untier, kamen zwei weitere dafür heran.
Dieser Kampf währte ewig – so schien es. Bis ein Dutzend Ungetüme auf einmal angriffen und sich auf den aschhaarigen Eisexorzisten warfen und ihn unter sich begruben.
Dies ist nicht möglich, dachte Caladir, dies alles hier ist total absurd! Die stinkenden Fleischberge auf ihm raubten ihm die Sicht, das Atmen, selbst die kleinste Bewegung war unter dieser wimmelnden, sich selbst behindernden Masse nicht mehr möglich.
Da drang ein ferner Ruf an sein inneres Ohr: „Caladir e'Yander, erkenne!“
Und er erkannte es endlich. Er steckte in einem irrwitzigen Albtraum fest! Nun nicht länger Spielfigur eines aus seiner tiefsten Vergangenheit heraufbeschworenen toten Wesens, stärkte ihn diese Erkenntnis zur absoluten Gegenwehr.
Aber es reichte nicht aus, einfach aufwachen zu wollen , er musste auch daraus erwachen. Und dazu musste er Herr über diese Situation werden.
Unerwartet stob der Ungeheuer-Fleischberg auseinander. Die einzelnen keifenden Monster flogen wie explodierte Teile durch die Luft und lösten sich ins Nichts auf.
„ Es ist genug!“ brüllte Caladir und knurrte noch finsterer als die um ihn erstarrten Ungeheuer. „Genug! Ich hab keine Lust mehr auf dieses Spiel. Verschwindet!“ Und um sein letztes Wort zu unterstreichen, machte er dazu die passende Handbewegung unter der die Striegen, Kikimoras, Ungetüme, Höllenhunde und Ghule, unter der die Golems, Bruxas, Geister und verfluchte Könige sich in schwarzen Rauch auflösten. Sehr theatralisch, aber wirkungsvoll.
Nur eine ängstlich blickende Person blieb außer dem Eisexorzist auf der Lichtung zurück: der Vagabund Ulf Varen. Caladir packte ihn an der Gurgel.
Die alternde Hohepriesterin Agnes-Merle hatte sich sofort um die sonderbare Fracht des Kaufmannes Ayden gekümmert und nach der Heilerin Leandea schicken lassen, die in der Schreibstube an einer Abschrift arbeitete. Die goldblonde Frau war sofort zu dem Verwundeten geeilt, als sie erfuhr, dass es sich dabei um den Eiswolf Caladir e'Yander handelte. Sie hatte den Exorzisten mit ihrer Magie behandelt; alle Splitter aus den feinen Wunden entfernt und sie geschlossen. Nun lag er entkleidet und gesalbt in den sauberen Linnen eines Krankenbettes und schlief einen unruhigen Schlaf.
Leandea erkannte sofort, dass der Mann im Bann eines Alpwesens gefangen war, darum handelte sie schnell und effektiv. Indem sie die Wunden mit Magie weitgehend heilte und das aufkommende Fieber senkte. Schließlich drang sie in seinen Geist ein und schickte ihm eine kurze Botschaft – „Caladir e'Yander, erkenne!“ Dann wartete die Mutter geduldig am Bett ihres Sohnes.
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