Rickman hatte moralisch kein Problem damit, bedeutende Kunstwerke der Menschheit zu erhalten, indem er sie der Menschheit vorenthielt. Hier unten, tief im antarktischen Eis, lagerten unermessliche Schätze, die Kunsthistoriker in aller Welt das Staunen gelehrt hätten.
Er erreichte die unterste Etage.
„Letztes Stockwerk. Eine Weiterfahrt ist nicht möglich“, hörte er die Computerstimme.
„Weiterfahren. Autorisation Riker alpha.“
Rickman lächelte. So alt er auch sein mochte, er hing immer noch an seinen Jugenderinnerungen, vor allem an den Science-Fiction-Serien, die er damals regelrecht verschlungen und denen er letztlich seine berufliche Karriere und seinen heutigen Status zu verdanken hatte: Innovativster Erfinder. Reichster Mann der Erde. Staatsoberhaupt von Rimania und schon bald - Nobelpreisträger.
Die Metalltüren glitten leise zur Seite und gaben den Blick auf einen schier endlos langen Korridor frei, von dem zahlreiche weitere Räume abzweigten. Ein dunkelgrauer, weicher Bodenbelag dämpfte seine Schritte. Das Licht war schwach und erhellte sich automatisch nur in den Räumen, die ein Besucher durchschritt.
Die Luft roch auch hier frisch und angenehm. Relative Luftfeuchtigkeit und Temperatur waren optimal auf die jeweiligen Objekte abgestimmt und wurden vom Computer ständig überwacht und korrigiert.
Rickmans Ziel war ein ganz bestimmter Raum. Vier großformatige Ölgemälde hingen hier, jedes an einer der Wände: Eine grausige Enthauptung des Holofernes, ein David mit dem blutenden Haupt des Goliath in der Hand, eine Darstellung von Abraham, der gerade seinen Sohn Isaak mit einem Messerstich opfern will, und an der Stirnseite Rickmans Lieblingsbild. Alle gemalt von einem der großartigsten und extremsten Künstler, den das frühbarocke Italien hervorgebracht hatte.
Hierher kam Rickman oft, und das kleinste der Bilder, vor dem er nun stehengeblieben war, gehörte zu denen, die er immer und immer wieder wie aus einem inneren Zwang heraus betrachtete - dabei aber jedesmal erneut voller Genuss. Gewiss gab es in seiner großen Sammlung kunsthistorisch Bedeutenderes und künstlerisch Wertvolleres, etwa das monumentale Gemälde der Anghiari-Schlacht von Leonardo da Vinci - ein wunderbares, kraftvolles Motiv, von dem alle Welt glaubte, dass davon nur ein nie vollendetes und nach kurzer Zeit wieder übermaltes Wandgemälde im Palazzo Vecchio in Florenz existiert hätte, von dessen Aussehen heute nur noch einige Skizzen eine schwache Vorstellung vermittelten.
Keines der über dreitausend Gemälde hier war beschriftet, denn Rickman wusste auch so, wer sie gemalt hatte und welche Geschichten sie erzählten. Ein Beschriftungsschild hätte den ästhetischen Genuss beim Betrachten des Kunstwerkes gemindert. Im Bedarfsfall hätte der Computer auch auf Zuruf über jedes Objekt erschöpfend Auskunft geben können. So auch über dieses.
Caravaggio. Die Stigmatisierung des Hl. Franziskus. Gemalt für eine kleine Kirche in Triest: Santa Maria in Valletta. Als Rickman davor stehenblieb, entstand neben dem Gemälde aus dem Nichts eine holografische Figur mit dem Aussehen von Michelangelo Merisi, genannt Caravaggio, anhand von Selbstbildnissen des Malers vom Computer rekonstruiert.
Während Rickman in einem bequemen Fauteuil Platz nahm, blickte er dem Künstler in die Augen.
In die Augen eines Mörders.
Es war ein herrliches Bild, 92 cm hoch und 128 cm breit, das viele Jahre in der später abgerissenen Kirche hing, bevor es durch die Wirren des 2. Weltkrieges über viele Hände in amerikanischen Privatbesitz geriet, wo Rickman es aufkaufen ließ. Ein geniales Meisterwerk, gemalt von einem Mörder.
Und nicht nur das - es erzählte auch die Geschichte seines Mordes.
Rickman betrachtete das Bild so genau, als sähe er es heute zum ersten Mal: Vor einem fast schwarzen Hintergrund, der nur durch ein paar fahle, vegetabile Elemente belebt ist und in der Mitte mit wenigen hellen Strichen den nahen Morgen erahnen lässt, liegt diagonal hingestreckt die Gestalt des Heiligen Franziskus. Die braune Kutte hüllt ihn fast ganz ein, nur ein bloßer Fuß und die beiden Hände ragen hervor. Von den Stigmata, den Wundmalen Christi, die der Heilige gerade empfangen haben soll, ist eigenartigerweise nichts zu bemerken, die Handflächen sind wie zufällig nach innen gedreht. Nur ein kleiner Riss in der Kutte über der rechten Brust gibt dem kundigen Gläubigen einen Hinweis auf das soeben Geschehene. Der Kopf liegt zurückgesunken, die Augen sind geschlossen, die Gesichtszüge kraftlos, ja leblos. Oberkörper und Kopf ruhen im Schoß eines jungen Engels, der sich zu Franziskus hinabbeugt und ihn sinnend, jedoch eigenartig betrübt betrachtet.
Wenn man ganz genau hinsah, wie Rickman es jedes Mal tat, konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Heilige nicht etwa überwältigt vom mystischen Geschehen in eine tiefe Ohnmacht gefallen, sondern tot war.
Rickman war überzeugt davon, dass Caravaggio unter dem Deckmantel der Schilderung eines Wunders aus der Franziskus-Legende hier in Wirklichkeit ein Verbrechen zeigte.
Sein eigenes Verbrechen.
Der Engel, der sich über den Toten beugt, ist Caravaggio selbst, die Ähnlichkeit mit der aus den Selbstbildnissen generierten Holo-Figur war unübersehbar, die leblose Gestalt des Heiligen hingegen trägt die Züge von Rannuccio Tommasoni aus Turin, den der Künstler 1606 im Streit erschlagen hatte und daraufhin aus Rom geflohen war.
In diesem Bild verarbeitete der damals 36jährige Caravaggio dieses traumatische Erlebnis, stellte sich selbst und sein Opfer der ganzen Welt vor Augen, indem er das Gemälde an die Kirche Santa Maria in Valletta verkaufte. Jedem Gläubigen, der das Gotteshaus besuchte, führte das vielbestaunte Meisterwerk Caravaggios dessen chiffriertes Geständnis vor Augen.
Wollte er, dass alle Welt es sah? Dass die Öffentlichkeit Zeuge seiner Tat wurde? Seine Bekümmerung darüber erkannte, die sich subtil in den Gesichtszügen des Engels spiegelt? Strafte er sich dadurch selbst? War es seine Art der Sühne?
Oder wollte er öffentliche Aufmerksamkeit, wie mancher Serienkiller? War es gar nur freche Eitelkeit, überheblicher Spott über die Unfähigkeit der Justizbeamten, denen er von der Kirchenwand herab eine lange Nase drehte?
Oder wollte er vielleicht unbewusst einen Hinweis auf seine Schuld geben, um gefasst und angeklagt zu werden? Um endlich gestehen zu können, sich von dem Druck der Selbstvorwürfe zu befreien und endlich, endlich Ruhe zu finden?
Stellte er vielleicht sein Verbrechen in einem Gotteshaus dar, unter den Augen des Allmächtigen, um dessen Gerechtigkeit und Gnade zu erflehen? Oder verhöhnte er mit seinem Geniestreich auch Gott und die katholische Kirche?
Konnte ein so begnadetes Genie wie er überhaupt ein Mörder sein? War dies seine Entschuldigung? Gab er darum seiner Schuld eine so großartige, eine so überirdisch schöne Form, die man einfach nur staunend bewundern musste und um derentwillen man nicht anders konnte, als ihm sein aufbrausendes Temperament, seine spontane Tat zu verzeihen?
Bestimmt hätte ein Psychologe die narzisstische Persönlichkeitsstruktur Caravaggios viel besser und wissenschaftlich fundiert erklären können.
Doch Rickman konnte ihn verstehen!
Er kannte diese Mischung aus Genialität und Mangel an Selbstbeherrschung, die morbide Vorliebe für das Schreckliche, die blinden Wutanfälle jenen gegenüber, die nicht verstanden und auch nicht verstehen wollten. Caravaggio versuchte seine Tat zu sühnen, indem er sie der ganzen Welt offenbarte. Und gleichzeitig erhob er sich durch die Großartigkeit der Darstellung geistig über die, die ihn nicht begreifen konnten, stellte sich mit seinem Genie einer höheren Gerechtigkeit als der irdischen. Kein Mord - Totschlag vielleicht, ein Anfall von Wut, ein Unfall, ein grausamer Zufall. Zur falschen Zeit am falschen Ort.
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