Rickman war jetzt 70 Jahre alt, aber unvoreingenommene Beobachter hätten ihn auf höchstens Mitte 50 geschätzt. Sein kurzgeschorenes, graues Haar und die stahlgrauen Augen, die ihr Gegenüber stets aufmerksam und meist etwas überheblich fixierten, standen in attraktivem Kontrast zu der glatt rasierten, sonnengebräunten Haut seines immer noch faltenlosen Gesichts. Die dünnen Lippen wirkten hart und kennzeichneten einen Menschen, der gelernt hatte, sich durchzusetzen und der Welt seinen Willen aufzuzwingen. Auch seine geschmeidigen, kraftvoll wirkenden Bewegungen ließen nicht auf sein wahres Alter schließen.
Dies kam nicht von ungefähr. Nicht nur, dass er seit Jahrzehnten eisern ein strenges Fitness-Programm absolvierte und sich nach einem wissenschaftlich ausgearbeiteten Plan ernährte, es stand auch ein ganzes Team von Fachärzten und Physiotherapeuten sowie Heilpraktiker, Reiki-Meister, Fachleute für alte chinesische Medizin und sogar ein Schamane rund um die Uhr zu seiner persönlichen Verfügung. Für Notfälle gab es in der riesigen Station eine mit den neusten technischen Errungenschaften eingerichtete Klinik und einen Operationssaal, welcher dem der Charité in Berlin in nichts nachstand. Im Gegenteil. Seit dem Kollaps der staatlichen Gesundheitssysteme in den meisten Ländern und der fast weltweiten Abschaffung der Krankenkassen zugunsten einer „eigenverantwortlichen Vorsorge“ - wie es damals euphemistisch in der politischen Propaganda hieß - waren erstklassige medizinische Dienstleistungen sowieso nur noch den Begüterten zugänglich und Rickman leistete sich auch hier das Beste vom Besten.
Während er den Blick über die beruhigende Eintönigkeit seiner Umgebung schweifen ließ, dachte er an einen Aphorismus von Oscar Wilde, den er sehr schätzte. Wilde hatte einmal geschrieben, er habe einen einfachen Geschmack – immer nur das Beste.
Rickman lebte nach diesem Motto. Die riesige Station, die er sich nach eigenen Plänen von einem Heer von Experten hatte bauen lassen, glich einer Festung. Einer sehr komfortablen Festung allerdings, denn es fehlte hier an keinem nur erdenklichen Luxus. Es gab sogar parkähnliche Gärten unter dem ewigen Eis. Mit immensem technischem und energetischem Aufwand war unter anderem eine Südseelagune mit üppiger Vegetation nachgebildet worden - ein Paradies, bei dem nur der strahlend azurblaue Himmel mit seinen sanft dahinziehenden, weißen Wölkchen auf einer optischen Illusion beruhte.
Als man 1959 im Antarktis-Vertrag den unabhängigen politischen Status des Gebietes um den Südpol festgeschrieben und kein Staat der Erde klassische Territorialansprüche geltend gemacht hatte, wurde die Nutzung für friedliche und wissenschaftliche Zwecke gestattet, eine Klausel, die Rickman für sich zu nutzen verstand. Er beanspruchte im Jahre 2041 mit Billigung der UNO ein mehr als 70.000 Quadratkilometer großes Gebiet, was etwa der Fläche von Bayern entsprach, und errichtete darauf eine Forschungsstation. Er startete umfangreiche wissenschaftliche Projekte, welche die Möglichkeit menschlicher Siedlungen in einer 4500 Meter dicken Eisschicht testen und die Auswirkungen des Klimawandels auf die Südpolregion und die gesamte Erde mit neuartigen Messtechniken untersuchen sollten.
Seine Forschungsergebnisse überließ er allen Staaten der Erde uneingeschränkt und kostenlos. Darüber hinaus gab es in Rimania City, wie er die Station - das Zentrum seines Landes - nannte, bestens ausgestattete wissenschaftliche Labors mit Gästesuiten, die Forschern aus der ganzen Welt für unterschiedlichste Projekte frei zur Verfügung standen. Hochintelligenten jungen Menschen gewährte er großzügige Stipendien und Bildungsmöglichkeiten ohne Ansehen ihrer Herkunft und ohne lange zu fragen, ob ihre Forschungsziele "sinnvoll" seien, denn auch er hatte seine beispiellose Karriere auf Visionen aufgebaut, die fantasielose Bedenkenträger zunächst als Spinnereien abgetan hatten, bis er sie eines Besseren belehrte. Den Stipendiaten wurde auch gestattet, interdisziplinär Forschungseinrichtungen der Station zu nutzen und sich überall frei zu bewegen.
Fast überall.
Auf diesen großzügigen Gesten baute Rickman ein diplomatisches Bravourstück auf: Er wandelte seinen Besitz in einen Kleinstaat um, der von allen Mitgliedsstaaten der UNO zunächst rechtlich und politisch geduldet, später jedoch offiziell als souverän anerkannt wurde, wobei reichlich Geld geflossen sein soll. Seit die klassischen Staatengebilde des 20. Jahrhunderts von einer wirtschaftlichen Krise in die nächste schlitterten und vor allem Geld - viel Geld - brauchten, um ihre bankrotten Staatshaushalte zu sanieren oder wenigstens die Zinsen ihrer gigantischen Schuldenberge bedienen zu können, legte man Verträge und internationale Vereinbarungen oft etwas großzügiger aus und war manchem Ansinnen begüterter Zeitgenossen aufgeschlossener als früher.
Tom Rickman hatte mit der Gründung seines Staates Rimania den Status eines Staatsoberhauptes über seine mehr als 1500 dort ständig lebenden Mitarbeiter erlangt und konnte daraus international etliche Privilegien ableiten, die ihm bei seinen Plänen und profitablen Geschäften äußerst dienlich waren und seinen ohnehin immensen Einfluss noch vergrößerten.
Sein Blick ruhte immer noch auf der glitzernden Eisfläche.
Er dachte an Mord. Genauer gesagt, an ein Haus, in dem zehn Morde geschehen waren. Und an sein Museum, in dem dieses Haus und die darin begangenen Gewaltverbrechen gezeigt werden sollten.
Er telefonierte. Hierzu sprach er einfach in den Raum hinein, der Computer sorgte für die nötige Verbindung und garantierte deren akustische Qualität.
„Krämer, nehmen Sie Kontakt zu Merkmann in Hamburg auf. Übergeben Sie die vorbereiteten Unterlagen und betonen Sie die Priorität der Mission. Sanders soll alle juristischen Probleme erledigen und im Erfolgsfall die sofortige Translozierung des Gebäudes veranlassen. Er hat alle Vollmachten. Ich erwarte schnelle Ergebnisse.“
„Wie Sie wünschen, Dr. Rickman.“
Das Gespräch war damit beendet. Rickmans Anweisungen waren wie immer klar und unmissverständlich. Rückfragen erübrigten sich wie stets. Seine persönlichen Assistenten erwarteten von ihm keine Höflichkeitsfloskeln oder gar eine Verabschiedung.
Die Schiebetüren des geräumigen Lifts in Rickmans Büro schlossen sich lautlos, nachdem er die Kabine betreten hatte. Ausschließlich von hier aus - und dies war nur wenigen Menschen bekannt - konnte man bis in das 13. Stockwerk der riesigen Station hinunterfahren.
Diese Etage barg das Allerheiligste, in das der Multimilliardär nur besonders auserwählte Gäste führte: seine Kunstsammlung. Unnötig zu erwähnen, dass es sich um die größte private Kunstsammlung der Welt handelte und nur Institutionen wie der Louvre oder die Vatikanischen Museen konnten es an Qualität und Quantität mit dieser Kollektion an Schätzen aufnehmen. Wenn überhaupt. Rickman hatte mehrere große Privatsammlungen aufgekauft sowie einige komplette kommunale Museen, die aus Mangel an öffentlichen Geldern schließen mussten. Finanzschwache Länder, wie etwa Ägypten, veräußerten Spitzenstücke aus ihren staatlichen Museen, um soziale und humanitäre Projekte zu finanzieren und wenigstens die dringendsten Probleme in den Griff zu bekommen, wobei Rickman sich stets äußerst großzügig zeigte. Er beschäftigte weltweit zahlreiche Agenten, die ständig nach neuen Optionen Ausschau hielten. Sie boten als Strohmänner für ihren Auftraggeber bei Auktionen, kauften für ihn verdeckt im offiziellen Kunsthandel, aber auch auf dem Schwarzmarkt und sogar von dubiosen Schatzsuchern, die es mit den örtlich geltenden Bestimmungen zum Schutz von Kulturgut nicht so genau nahmen.
Gestohlene Objekte erwarb Rickman jedoch grundsätzlich nicht, und er gab auch keine Diebstähle oder Einbrüche in Auftrag. Er achtete die Gesetze so gut es ging, legte manche Bestimmung und Verordnung aber oft großzügig aus, wenn er deren Sinn in Frage stellte. So gab es Menschen und Behörden, die meinten, ein Kunstwerk müsse an seinem Ursprungsort verbleiben. Doch wo wären heute die herrlichen Parthenon-Friese eines Phidias, wenn nicht die Briten sie vor langer Zeit mehr oder weniger illegal aus Athen fortgeschafft hätten? Man konnte sie immer noch im Britischen Museum in alter Pracht bewundern, während die beklagenswerten Teile, die am Tempel auf der Akropolis verblieben, schon am Ende des 20. Jahrhunderts von den Autoabgasen der Millionenstadt bis zur Unkenntlichkeit zerfressen gewesen waren.
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