Sam seufzte leise und gab sich schließlich einen Ruck. Sie holte aus ihrer Jackentasche den MPC, ein flaches, graues Kästchen, legte es auf das etwas wackelige, dafür aber echt antike Tischchen unter der Fensterbank, wo sie gerne zum arbeiten saß und schaltete das Gerät akustisch durch Nennung des Passwortes an.
„Jailhouse Rock! - Avatar-Modus!“
Auf das Passwort hin wurde eine holografische Tastatur und ein ebensolcher Monitor projiziert und im Avatar-Modus entstand zusätzlich ein bunter Lichtwirbel, der sich auf der Tischplatte zu einer kleinen Figur mit menschlichen Umrissen verdichtete.
„Vergrößern!“
Sam mochte es nicht, sich mit einem Zwerg zu unterhalten. Der etwas höhere Energieverbrauch machte den Kohl heute auch nicht fett. Der kleine Lichtwirbel fiel wieder in sich zusammen, formierte sich fast augenblicklich neben dem Tisch neu und nahm die lebensgroße Gestalt eines jungen Mannes an, mit schwarzem Haar, das sich an der Stirn zu einer Tolle hochdrehte, großen Koteletten und etwas aufmüpfig hochgeschürzten Lippen. Die Figur trug einen weißen, mit Strass reich bestickten Overall mit weiten Beinen, Fransen an den ebenso weit geschnittenen Ärmeln und einem hochgestellten Kragen.
Sam musste zugeben, dass ihr Elvis nicht unbedingt eine Schönheit war - das teigige Gesicht erinnerte an eine Gummipuppe, manchmal flackerte die Darstellung sogar etwas und wurde durchsichtig. Natürlich war ihr MPC nicht mehr der allerneueste und auch nicht besonders teuer gewesen. Die Einstellparameter für den Avatar reichten gerademal über Geschlecht, Alter, Körperbau, Augenfarbe, Haarfarbe, Haarfrisur (da gab es viel zu wenige zur Auswahl und die Tolle war ein sehr unbefriedigender Kompromiss gewesen) bis hin zur Bekleidung, außerdem war die Haut wenig differenziert dargestellt und die Oberflächentexturen, besonders bei der Kleidung, ließen auch zu wünschen übrig - von den etwas ruckeligen Bewegungen gar nicht zu reden. Als lebensecht konnte man ihn nicht gerade bezeichnen, sein Erscheinungsbild machte eher den Eindruck einer schlechten Karikatur aus einer 3D-animierten Kinder-Serie und erinnerte daher fatal an die späten Lebensjahre des Rock-Stars.
Ein etwas dümmliches Lächeln von Elvis zeigte an, dass der Avatar betriebsbereit war.
„Anfrage an alle Standard-Suchmaschinen“, begann Sam, während sie eine Schachtel mit Weinbrandbohnen bereitstellte, „Agatha Christie. Zehn kleine Negerlein.“
„903.638 Ergebnisse. Englischer Kriminalroman von Agatha Christie. Erschienen 1939 unter dem Originaltitel ‚Ten Little Niggers or the Last Weekend’, alternativer Titel: ‚And Then There Were None’, verfilmt 1945, 1965, 1974 und 1987. Inhaltsangabe: Der angebliche U. N. Owen lädt zehn Menschen, die aus seiner Sicht eines Verbrechens schuldig sind, aber von der Justiz nicht zur Verantwortung gezogen werden konnten, zu einem Wochenende in sein Haus auf einer einsamen Insel ein, wo sie ihrer Verbrechen bezichtigt werden. Die Gäste werden einer nach dem anderen ermordet, nur ...“
„Stopp! Vorherige Suche fokussieren: Verfilmung. Originalschauplatz.“
„Die deutsche Verfilmung von 1966, unter der Regie von George Pollock, fand am Originalschauplatz statt. Darsteller: Mario Adorf, Shirley Eaton, Daliah Lavi ...“
„Stopp! Suche im aktuellen Text-File: Name des Originalschauplatzes.“
„Keine Angaben.“ Sam fischte sich eine Weinbrandbohne aus der Schachtel und entfernte sorgfältig die Goldfolie. Nichts hasste sie mehr, als auf ein Stückchen kleben gebliebene Goldfolie zu beißen, was einen überraschend unangenehmen, metallischen Geschmack hinterließ. Es gab sie auch unverpackt, aber Sam bevorzugte die verpackten, da sie sich oftmals welche in die Jackentasche steckte.
Sie erinnerte sich nun, dass in dem Roman, den sie mehr als ein Mal gelesen hatte, so etwas ähnliches wie „Negerinsel“ oder „Negerkopfinsel“ vorkam.
„Text-File aus Medienbibliothek aufrufen: Literatur. Autor: Agatha Christie. Titel: Zehn kleine Negerlein.“
„Text-File steht vollständig zur Verfügung. Wollen Sie online lesen, einen Ausdruck erhalten oder den Text anhören?“
„Lass mal laufen.“
„Eingabe unverständlich.“
„Gott nochmal! Text anhören!“
„Richter Wargrave, der vor einiger Zeit pensioniert worden war, saß in der Ecke des Raucherabteils und ...“
„Stopp. Volltextsuche. Alle Begriffe aufzählen, die in Zusammenhang mit dem Wort 'Insel' auftreten.“
Sam schob sich die Weinbrandbohne in den Mund und kaute genüsslich.
„Kleine Insel ... unheimliche Insel ... verlassene Insel ... gottverdammte Insel ... Negerkopfinsel ... felsige ...“
„Stopp!", rief Sam mit vollem Mund und bemühte sich um eine verständliche Aussprache, "Auf die englische Original-Ausgabe zugreifen und die Suche auf zusammengesetzte Begriffe mit dem Bestandteil 'Island' ausdehnen.“
„Ein Begriff gefunden: Nigger-Island.“
„Okay. Neue Anfrage an alle Suchmaschinen: Nigger-Island.“
„Die Anfrage enthält rassistische oder diskriminierende Elemente und kann nicht beantwortet werden.“
Sam fluchte. „Okay, okay, du blöder Kasten. Sondererlaubnis für kulturhistorische Suche. Autorisation Samantha A. Merkmann, Privatdetektivin. Passwort: Jailhouse Rock 2049. Anfrage wiederholen.“
„Zugriff wurde registriert und genehmigt. Mehrere Bedeutungen sind möglich:
1. Nigger Island in Devon, Nähe Sticklehaven. Handlungsort des englischen Kriminalromans von Agatha Christie: Zehn kleine Negerlein.“
„Stopp! Geographische Daten von Sticklehaven anzeigen.“
„Ein solcher Ort existiert geographisch nicht.“
Na klar, dachte Sam, so einfach kann es ja auch nicht sein, sonst hätte Rickman sich einfach selbst ins Internet gehängt und sein Geld sparen können.
„Vorherige Suche fortsetzen. Jeweils nur eine Begriffserklärung nennen.“
„2. Im 18. Jahrhundert von Piraten bewohnte Insel westlich von Sansibar.“
„Weiter.“
„3. Von 1969-1972 Kneipe im Künstlerviertel von San Francisco. Damals sehr berühmt für Free Jazz-Aufführungen von farbigen Musikern.“ Sam stellte sich einen farbigen Musiker vor, gelb-blau kariert mit grünen Punkten, und grinste. Die Bezeichnung „Neger“ oder „Nigger“ galt seit langem als rassistisch und war seit vielen Jahrzehnten aus dem Sprachgebrauch verschwunden. Auch den früher gebräuchlichen Begriff "Negerküsse", der Form und Farbe dieser Süßigkeit so herrlich anschaulich beschrieb, hatte man nach der Jahrtausendwende durch ein bürokratisches "schokoliertes Schaumgebäck" ersetzt, was Sam eigentlich um der Farbigkeit des Begriffes willen bedauerte. Aber "Farbiger" fand sie nun auch etwas seltsam.
"Weiter."
"Keine weiteren Ergebnisse."
Sam schluckte. "Standard-Suchmaschinen verlassen. Die englische Suchmaschine 'Colloquial Language' aufrufen. Gleicher Suchbegriff."
„Umgangssprachliche Benennung einer offiziell namenlosen, kleinen, privaten Insel unweit der Westküste von Penbrokeshire in Wales, Großbritannien, vorgelagert der Insel Skomer, die für ihre geheimnisvollen Steinkreise, Menhire und ihre grandiose Vogelwelt bekannt ist. Erwähnt in dem Essay „Revelation“ von Flannery O'Connor ...“
„Stopp! Geht doch! Umgebung der Insel Skomer anzeigen. Satelliten-Ansicht. Live. Auf den Hauptmonitor legen. Bildschirmfüllend.“
Eine Wand ihrer Wohnung, die gerade eben noch ein Muster aus bunten Orchideen auf violettem Hintergrund geziert hatte, verwandelte sich. Es erschien die Luftansicht einer kleinen Insel, welche rechts in einer fast abgetrennten Halbinsel auslief. Davor lag noch eine viel kleinere Insel - mehr oder weniger nur ein größerer Felsen.
„Rechte Bildhälfte vergrößern.“
Auf einem felsigen Plateau stand ein großes Haus, sonst war die Insel leer, bis auf eine Holzhütte am Strand. Irgendwie machte das Haus auf Sam selbst aus der Ferne einen unheimlichen Eindruck.
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