1 ...6 7 8 10 11 12 ...31 Plötzlich sah Frau Hansen an Sam vorbei aus der Tür und erstarrte in maßlosem Entsetzen. Sam kannte diesen Gesichtsausdruck nur zu gut aus Kriminalfilmen, wo sich der Mörder von hinten herangeschlichen hatte und mit dem aufblitzenden Stilett zum tödlichen Stich ausholte, während der Detektiv ihm völlig ahnungslos den Rücken zukehrte.
„Da!“, stöhnte Frau Hansen tonlos und es verschlug ihr tatsächlich völlig die Sprache. Sams Blick folgte dem ausgestreckten, dünnen Zeigefinger, der leicht zitterte.
Dann sah sie das Grauen auch.
Eine perlenkettenartige Spur von Müll führte die Treppe hinauf, oder besser gesagt, hinunter. Ihr Müll. Zerknüllte, weil gebrauchte Papiertaschentücher, eine leere, schon ziemlich alte, aber noch schleimige Bananenschale, golden glänzende Einwickelpapiere von Weinbrandbohnen und eine kaputte, alte Haarbürste mit ziemlich vielen Haaren darin reihten sich zu einem peinlichen Defilee. Sam schaute verdutzt auf den Mülleimer, der seinen Dienst nur noch unzureichend versah, weil der Boden sich halb gelöst hatte.
Unter den tadelnden Blicken von Frau Hansen und von ihr kopfschüttelnd erzeugten Geräuschen, die wie "Tzs, tzs, tzs" klangen, musste Sam alles säuberlich aufsammeln, den Müll sorgfältig trennen und auch den kaputten Eimer sachgerecht entsorgen. Um einigermaßen von der blamablen Situation abzulenken, kam Sam auf Frau Hansens Lieblingsthema zurück: "Machen Sie sich wegen eines Mannes keine Hoffnungen - ich bin nur kurz und rein geschäftlich unterwegs, da lerne ich keine Männer kennen und der britische Humor, na, ich weiß nicht so recht. Und machen Sie sich bloß keine unnötigen Sorgen. Es ist ein absolut unspektakulärer und garantiert ungefährlicher Auftrag. Ich bin weit von der Museumsinsel entfernt und Mörder laufen mir schon gar nicht über den Weg."
Sam ahnte in diesem Moment nicht, wie sehr sie sich in allem täuschen sollte.
Großbritannien, 1. Mai 2049
Nachdem Sam wiederholt versprochen hatte, vorsichtig zu sein und auch potentiellen Lebensabschnittsgefährten - ob nun reich, adelig oder beides - Gelegenheit zu geben, ihren Humor unter Beweis zu stellen, fuhr sie zum Flughafen, checkte ein und landete eine Stunde später in Stansted.
Sie nahm nicht das Shuttle nach London, sondern übernachtete in einem Hotel am Flughafen, schlief lange und fuhr erst nach einem ausgiebigen englischen Frühstück weiter an die Küste. Abenteuerlustig gestimmt, hatte sie nach Nierenpastete gefragt, aber der indische Kellner hatte sie nur verständnislos angesehen. Vielleicht war ein Hotel am Flugplatz doch nicht der richtige Ort für traditionelle englische Küche.
Sie verzichtete auf einen Mietwagen, da sie sich nicht traute, auf der falschen Straßenseite zu fahren. Das hätten sie längst ändern müssen. In einigen anderen Ländern - war das nicht in Somalia gewesen oder Schweden? - hatte das auch geklappt, mehr oder weniger schnell.
Sam nahm in London den Hochgeschwindigkeitszug „Lionheart“, der mit knapp 300 Stundenkilometern über Bristol nach Cardiff raste, stieg dort in die gemütlichere Regionalbahn nach Swansea um und erreichte nach ziemlich unbequemer und langer Fahrt schließlich Milford Haven. Am frühen Abend brachte sie ein Taxi nach Martin's Haven, von wo aus sie mit dem letzten Fährboot, das bis 20 Uhr jede Stunde fuhr, nach Skomer übersetzte und nun glaubte, am Ende der zivilisierten Welt angelangt zu sein.
Pro Tag durfte nur eine bestimmte Anzahl von Touristen die Insel betreten, aber die Saison hatte noch nicht richtig begonnen und Sam war zu dieser Stunde der einzige Fahrgast. Es dämmerte schon und sie sah nicht mehr viel von der Schönheit der kleinen Insel, bemerkte aber die vielen Papageientaucher, Kormorane und Lummen, die sich überall in Scharen versammelten. Sam liebte nicht nur Kriminalromane, auch die großen Film-Klassiker des einschlägigen Genres bis zurück in die Anfangszeit des Films hatte sie alle gesehen. Es war daher kein Wunder, dass die Szenerie sie stark an Alfred Hitchcocks „Vögel“ in der Verfilmung mit Rod Taylor aus den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts erinnerte.
Sie mietete sich in einer kleinen, neu erbauten Pension nahe dem Fähranleger ein - die einzige auf Skomer. Früher hatte es hier nur Vögel und Felsen gegeben, jüngst hatte man schließlich doch dem Tourismus Tribut gezollt. Der Pensionswirt betrieb sogar einen winzigen Pub, in dem sich abends die Männer aus den umliegenden Häusern trafen. Fährleute, ein Vogelwart und ein paar alte Fischer, die noch in den wenigen Hütten auf Skomer wohnten.
Obwohl etliche Touristen kamen, um die Menhire und die Vogelwelt, vor allem die Papageientaucher, zu bestaunen, erregte Sams Erscheinen allgemeines Interesse, was wohl vor allem ihrem schreiend roten Schal mit den grünen Karos und den gelben Ausrufezeichen darauf zuzuschreiben war. Da sie sich ansonsten gerne relativ dezent kleidete, versuchte Sam mit ungewöhnlichen, meist sehr bunt gemusterten Schals oder Halstüchern etwas Pep in ihre Garderobe zu bringen und verfügte über eine erstaunliche Kollektion exklusiver oder zumindest auffälliger Designs. Die Ausrufezeichen übten scheinbar eine fast magnetische Anziehungskraft auf die Blicke der Männer aus, was Sam nun doch etwas unangenehm war. Sie band das Tuch ab und steckte es in ihre Tasche.
„Was solls sein?“, fragte der Mann hinter dem Tresen und Sam entschied sich für ein kleines Stout. „Tourist?“
„Äh, ja oder vielmehr nein - ich bin in einer Grundstücksangelegenheit hier.“
„Ich kenn mich gut aus hier, kenn praktisch jeden. Viel Grundstücke gibts hier nich. Kenn sie alle, will ich wohl meinen. Was für ein Grundstück suchen Sie denn?“
„Das mit dem Haus, in dem die Morde geschehen sind, wissen Sie, welches ich meine?“
„Ja klar doch. Kennt hier jeder. Liegt direkt vor der Halbinsel 'The Neck'. Auf 'Nigger Island'. Da wollten schon viele hin. Das ‚Agatha Christie Haus’ haben sies immer genannt. Na ja, jedenfalls war es wohl so ne Art Vorlage für das Buch mit den zehn Indianern oder was das war. Die meisten Touristen fahren heute ja nach Skomer, wegen der Vögel, wissen Sie. Meistens mit den Ausflugsbooten, die fahren zweimal täglich. Die Fährboote nehmen nur wenige. Schon gar nicht abends. Zum Übernachten bleibt kaum jemand - meistens nur junge Pärchen.“
Einige der Männer, die in Hörweite saßen, zwinkerten sich zu, lachten etwas anzüglich auf, so ein Lachen, bei dem man den Mund nicht öffnete und das ein bisschen nach Ersticken klang, und der Mann fuhr etwas irritiert fort: „Nach 'Nigger Island' will heute fast keiner mehr. Nicht mal die Fährboote legen da mehr an. Früher mal, aber heute nicht mehr. Aber hier, der alte Pete, der fährt mit seinem Kutter jeden hinüber, der da hin will und bezahlen kann. Was, Pete?“
Ein alter Mann, der in der Nähe an einem Einzeltisch saß und aufmerksam zugehört hatte, nickte eifrig. Der Wirt stellte vor Sam ein gut gefülltes Glas mit schwarzbraunem Bier ab, auf dem eine cremefarbene, dünne Schaumkrone schwamm.
„Aber wenn Sie mich fragen", fuhr er dabei fort, "das lohnt nicht. In den letzten Jahren ist kaum jemand mehr deshalb gekommen. Seit sie im Internet diesen Bericht haben, wo drin steht, dass das alles doch ganz anders war.“
„Anders?“
„Na ja, anders eben, sag ich doch. Oder hab ich das nicht gesagt? Das Haus hat dem alten Owens gehört, also dem ganz alten. Edward J. Owens hieß er, glaub ich. Die Christie hat das in U. N. Owen verdreht, Sie wissen schon, unknown, unbekannt eben, damit das spannender wird.“
„Was ist denn passiert, damals, ich meine, wirklich?“ Der Wirt wischte langsam mit einem Lappen über den Tresen, als müsse er seine Erinnerungen erst sammeln. Er war froh, die alte Geschichte wieder mal jemandem erzählen zu können, der sie noch nicht kannte.
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