1 ...8 9 10 12 13 14 ...31 Als sie das Gebäude verließ, fiel ihr Blick auf einen kleinen Wegweiser, der auf das Heimatmuseum von Marloes hinwies. Es war nicht weit bis dorthin, Sam sah bereits das handgemalte Schild über der Tür, dessen Verzierungen ebenso üppig wie geschmacklos waren.
Sie betrat einen einzigen, aber erstaunlich großen Raum, vielleicht eine ehemalige Turnhalle, mit einem bunten Sammelsurium von Stellwänden unterschiedlichster Bauart und Vitrinen, denen man ansah, dass sie bereits den verschiedensten Zwecken gedient haben mochten und hierher gelangt waren, nachdem sie diesen nicht mehr genügt hatten. Aufsichtspersonal war nicht zu sehen, ebensowenig eine Kasse, was Sam befriedigt zur Kenntnis nahm. Es gab aber auch nichts, was zu bewachen gewesen wäre oder wofür es sich gelohnt hätte, Eintritt zu bezahlen.
An den Stellwänden hingen billig gerahmte oder aufgeblockte alte Fotos aus der Vergangenheit des Städtchens, ein paar von Feuchtigkeit wellige Zeitungen lagen aufgeschlagen in den Behelfsvitrinen, einige bäuerliche Geräte aus dem 20. Jahrhundert, die bereits etwas zerschlissene Fahne des Schützenvereins und als Glanzstücke konnte man den Küchenschrank und die Nähmaschine aus dem Besitz der lokalen Berühmtheit Mary Sutherbrick bewundern - wer immer sie auch gewesen sein mochte. Offenbar hielt man es nicht für nötig, dies dem Ortsfremden durch eine Beschriftung zu erläutern. Allerdings war fraglich, ob es Sam wirklich interessiert hätte, dass besagte Mary Sutherbrick im zarten Alter von 18 Jahren an der Ausscheidung um den Titel der "Miss Wales" teilgenommen hatte, wobei sie einen 2. Platz belegte.
Sams Rundgang führte sie schließlich an einen Tisch, der früher wohl einmal als ganz normaler Küchentisch gedient hatte. Eine dicke, an den Kanten geschliffene, leicht eingestaubte Glasplatte, die im Format nicht ganz zu dem Tisch passte und vormals zu ganz anderen Zwecken benutzt worden war, presste unter sich eine Reihe von Zeitungsausschnitten, Fotos und Dokumenten platt.
Es schien zum ungewollten Konzept des Heimatmuseums zu gehören, dass fast jedes Beschriftungsschildchen - wenn ein solches überhaupt vorhanden war - in einer jeweils anderen Größe und Schrifttype gedruckt war. So auch dieses, das „Die grausigen Morde der Bestie Edward J. Owens“ geradezu stolz anpries. Es dürfte wohl auch die einzig wirkliche Attraktion in dieser Gegend seit Menschengedenken gewesen sein. Sam warf einen Blick auf die ausgeblichenen Fotos, die den Mörder in seiner Jugendzeit bei einer Festaufführung der örtlichen Schule und den Abtransport der Leichen zeigten. Weiterhin war sein Abgangszeugnis zu bewundern, das mittelmäßige Leistungen auswies. Mehrere Presseartikel aus den späten 30er Jahren berichteten gewohnt reißerisch über die Tat und ganz links lag ein grauer Aktendeckel des Amtsgerichtes von Marloes, der die Glasplatte etwas in die Höhe drückte, so dass Sam darin noch einige Papiere vermutete. Nachdem sie sich überzeugt hatte, dass sie alleine im Raum war, schob sie die schwere Deckplatte so weit zur Seite, dass sie den Pappdeckel aufschlagen und die etwa zehn Seiten auseinanderblättern konnte. Sam nahm ihre Kamera aus der Tasche, stellte im Menue den Restlichtverstärker ein und den Verwacklungsschutz auf Maximum, wählte den Schwarz-Weiß-Modus für Dokumente und die höchstmögliche Auflösung und fotografierte sorgfältig alles, was mit dem Fall zu tun hatte. Sie schaltete nun noch einen Polfilter zu, der Reflexionen auf der Glasscheibe verhinderte, und nahm auch die Fotos und das Zeugnis gewissenhaft auf.
Sams Blick fiel nur zufällig auf eine Holzkiste mit einem Glasdeckel, die ziemlich versteckt unter dem Tisch stand. Fast hätte sie den Kasten übersehen. Darin lag ein rostiges Beil mit dunklen Flecken. Die Beschriftung war diesmal unsinnigerweise so klein, dass Sam sich leise fluchend weit hinunterbeugen musste, um sie lesen zu können. Das Schildchen sagte aus, dass Owens mit diesem Beil Salina Revolledo erschlagen hatte, als ihm die Munition ausging. Handschriftlich war noch eigens hinzugefügt worden, dass es sich bei den Flecken um das originale Blut des Opfers handelte. Sam überlief ein unangenehmes Schaudern. Sie rückte die Glasplatte wieder zurecht und wandte sich schnell dem Ausgang zu.
Die Rückkehr nach Skomer nahm mehr Zeit in Anspruch, als sie einkalkuliert hatte. Erst am späten Nachmittag fuhr Pete sie mit seinem Kutter über die inzwischen ziemlich raue See. Es regnete nun stärker und dicke, bleigraue Wolken hingen über der kleinen Felseninsel. Der Alte steuerte das große Boot so gut er konnte an den Strand, jedoch musste Sam beim Ausstieg immer noch durch das knöcheltiefe, eiskalte Wasser waten. Natürlich hatte sie nicht an Gummistiefel gedacht und wärmere Kleidung wäre auch angebracht gewesen. Überdies merkte sie erst jetzt, dass sie die Fahrt besser auf morgen hätte verschieben sollen, da es bereits dämmerte.
Man sah die Silhouette des Hauses, das einsam auf dem Hügel stand, schon von weitem. Sie hob sich aber nur mit dem dunklen Dach gegen das dustere Grau des Himmels ab. Sam brauchte noch fast eine Viertelstunde für den steilen Aufstieg, zunächst durch den feuchten Sand, dann über schlüpfrige Steine und zuletzt über Stufen, die in den Fels gehauen waren. Sie war etwas außer Atem, als sie oben ankam. Hier wehte der kalte Wind noch stärker. Fröstelnd zog sie ihren Schal enger um die Schultern.
Das würfelförmige Haus mit den Bogenfenstern, ganz so, wie es im Roman geschildert war, schien verlassen. Die Eingangstür war verschlossen, auch auf ihr Klopfen hin geschah nichts. Nirgendwo brannte Licht. Das Gebäude war baufällig, das sah man sofort und seit langer Zeit unbewohnt. Besonders jetzt, im fahlen Dämmerlicht, bekam es eine abweisende, fast bedrohliche Ausstrahlung. Sam hatte den Roman einige Male gelesen, sie hatte ihn wegen des genialen Szenarios regelrecht vergöttert. Fast erfüllte sie der Eindruck, auf geheiligtem Boden zu stehen, auch wenn sie wusste, dass sich die Ereignisse hier in der Wirklichkeit etwas anders zugetragen hatten, als im Buch geschildert. Doch Mord blieb Mord. Für Rickman wäre das einerlei.
Wie das Haus wohl innen aussah? Sam reinigte mit einem Taschentuch und Spucke die Ecke einer völlig verdreckten Fensterscheibe und spähte hinein. Außer Dunkelheit war natürlich nichts zu erkennen.
Sie erschrak zu Tode, als ein Vogel von innen gegen die Scheibe flatterte.
Nein, sie konnte sich des starken Eindrucks nicht erwehren, den das Haus auf sie machte. Zu denken, zu wissen, dass genau hier, an genau dieser Stelle all das wirklich passiert war. Ein wenig glaubte Sam, sie könne noch mit dabei sein, könne ein Stückchen der Ereignisse, der realen wie auch der erfundenen, miterleben, Richter Wargrave und Dr. Armstrong durch das Kaminzimmer laufen sehen. Besonders genial fand Sam die Idee von Agatha Christie, dass der Mörder seine eigene Ermordung vortäuscht, um unerkannt weiter aus dem Hintergrund die Fäden zu ziehen. Ein besonders geschickter Schachzug, denn damit scheidet er zunächst für den Leser aus dem Kreis der Verdächtigen aus und die Überraschung am Schluss ist umso größer.
Der „Genius Loci“, davon hatte Rickman einmal in einem Fernsehinterview gesprochen, der Geist, der einem Ort innewohnt - viele vermochten ihn zu spüren. Er übermannte Pilger an heiligen Stätten, beeindruckte Interessierte an geschichtsträchtigen Orten, heilte Kranke in Lourdes. Ein Schauer lief Sam über den Rücken, der nicht nur von der Kälte und den nassen Füßen kam.
Wieder schaute sie in die Dunkelheit, versuchte vergeblich, Einzelheiten im Innern zu erkennen. Privatdetektive in drittklassigen Filmen, dachte Sam, würden jetzt in das Haus eindringen und dort auf einen Mörder stoßen, der sich blödsinnigerweise in der Dunkelheit und Kälte des verlassenen Hauses tage- oder womöglich wochenlang versteckt gehalten und auf irgendjemanden gewartet hatte, um ihn dann schließlich aus dem Hinterhalt heraus zu meucheln - warum auch immer. Aber nicht mit mir, dachte Sam, dies ist kein Film und dafür werde ich auch nicht bezahlt. Sie machte sich auf den Rückweg, denn ihr war nun richtig kalt.
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