Von Ketteler gleitet in den Loungesessel und schaut sich um. Die gläserne Wand trennt den ehemaligen Särge-Schauraum in einen etwas schmaleren Empfangs- und einen tieferen Bürobereich. Dessen Belichtung verliert auf dem Weg vom Hof über den Empfang bis zu den Arbeitsplätzen an Intensität und wird von drei Oberlichtern ergänzt. Unter jedem steht ein Schreibtisch mit Lampe, Telefon und Flachbildschirm.
Frau Gonzalez öffnet die Tür zwischen Empfang und Büro. Im Rahmen bleibt sie stehen und informiert den Mann - offenbar Herr Delius -, der kurz herüberschaut und vage lächelt. Gleich darauf kehrt sie zurück, zwinkert von Ketteler zu und verlässt den Empfang durch eine von zwei Türen hinter dem Tresen, über der eine Digitaluhr die Zeit angibt - 10:01.
Zwei Minuten später serviert sie von Ketteler den Tee auf dem Beistelltisch. »Pur, ohne Zucker, ohne Milch, ¿no es cierto?«
Es ist Montagmorgen und Peter Delius auf Besuch nicht eingestellt. Erst gestern hatte er einen Auftrag zum Abschluss geführt. Im Gegensatz zu seinen Kolleginnen war er als Projektleiter bis zum Ende involviert, und der letzte Tag - üblicherweise der Höhepunkt eines Projekts - erforderte alle Aufmerksamkeit. Er kämpft mit der Müdigkeit. Zum Glück folgt dem Tag nach einem abgeschlossenen Auftrag lediglich das Aufarbeiten des E-Mail-Verkehrs. Erst am nächsten Morgen steht die gemeinsame Projektanalyse mit den daraus folgenden Anregungen für zukünftige Aufgaben an.
Nur Caren Gonzalez und er arbeiten heute Morgen in der Agentur. Ihre Partnerinnen erwarten sie erst nach deren Auswärtsterminen in der Mittagszeit.
Er fährt mit den Fingern durch die blondgelockten Haare, schaut an sich herunter und gibt sich mit Sneakers, beiger Chino sowie schwarzem, bis zur Brust geöffnetem Leinenhemd zufrieden. Im Monitor betrachtet er sein Spiegelbild. Die sonst wachen, grünen Augen sind über Nacht ausdruckslosen Schlitzen gewichen. Erste schmale Falten zeichnen leichte Schatten, und der inzwischen fünf Tage alte Dreitagebart wirkt etwas zu schmutzig. Ungerührt nimmt er es zur Kenntnis.
Noch als Student hatte er einen beneidenswerten Schlag bei den Frauen. Das Image des Sonnyboys ging zwar mit der Zeit verloren, dennoch konnte er einen Teil seiner frechen Jugendlichkeit bewahren. Aber in seinem jetzigen Zustand würden ihm kaum die vertrauten Komplimente der Damenwelt zuteilwerden, glaubt er. Nicht, dass er Schmeicheleien bräuchte, aber empfänglich dafür ist er schon - klar.
›Hilft ja nichts, dann mal los‹, denkt er, krempelt die Ärmel hoch und nimmt den Notizblock mit dem aufgesteckten Kugelschreiber vom Tisch.
»Seien Sie willkommen Herr ...«, er schaut kurz auf den Block, »Herr von Ketteler. Mein Name ist Peter Delius. Ich bin einer der drei Gesellschafter, und wenn Sie so wollen, der Dschinn neben den Jeannies.« Er reicht dem sich zur Begrüßung erhobenen Gast die Hand.
»Freut mich, Herr Delius, und danke.«
»Danke? Noch gibt es nichts zu danken.«
»Doch, doch. Ich nehme an, der sportliche Fahrer, der mir mit dem unverhofften Fahrtwind etwas Kühlung verschaffte, waren Sie.«
»Ja, ja, das war wohl ich. Also gern geschehen, ... ich meine, ... bitte entschuldigen Sie.«
»Da gibt es nichts zu entschuldigen«, bemerkt von Ketteler deutungsoffen.
Irritiert schlägt Delius vor, die Unterhaltung im 'Comm-Office' fortzusetzen, zeigt auf die andere der beiden Türen hinter dem Empfangstresen und geht voraus. »Lassen Sie den Tee einfach stehen, Frau Gonzalez übernimmt das gerne.«
Das 'Comm-Office' zeigt sich als Raum ohne Fenster. Auch hier sorgt ein Oberlicht für Helligkeit. Sechs Freischwinger stehen vor einem Konferenztisch. An den Wänden zeigen großformatige Fotos Menschen vor verschiedensten Hintergründen in unterschiedlichsten Situationen.
»Eine Auswahl unserer Aufträge«, erklärt Delius.
Von Ketteler nickt zustimmend. »Ich weiß ..., ihre Homepage ...«.
»Sicher«, bestätigt Delius lächelnd. »Aber hier sehen Sie die letzten, bisher noch nicht hochgeladenen Projekte.«
Von Kettelers Blick wandert von Aufnahme zu Aufnahme. Er erkennt die Besteigung des schneebedeckten Fudschijamas, einen Tandemflug mit den markanten Spitzen des Rosengartens im Hintergrund, einen Konvoi von Oldtimern auf einer Landstraße vor ausgedehnten Weinbergen. Auf einem Foto eines opulenten Sommerfestes im Park einer eleganten Bungalowanlage bleibt sein Blick haften, wie Delius bemerkt.
»Die Organisation eines Gartenfestes bedeutet für uns keine Herausforderung«, erklärt er. »Die noch lebenden, in den Jahrzehnten aus den Augen der greisen Auftraggeberin geratenen und in alle Welt zerstreuten Freunde ausfindig zu machen, war dagegen aufwendige Detektivarbeit.«
Frau Gonzalez betritt den Raum und stellt den Tee, eine Karaffe Mineralwasser sowie zwei Gläser auf den Tisch. Sie erkundigt sich nach weiteren Wünschen, die dankend verneint werden, und verlässt das Zimmer. Die Männer nehmen Platz.
»Viele Gäste hatten sich ein Leben lang nicht mehr gesehen«, fährt Delius fort. »Alle waren fröhlich und gelassen. Wir glauben, es war für alle ein schöner Tag. Die Sonne schien, die Temperatur blieb bis in den späten Abend hinein angenehm. Im Hintergrund untermalten die Jazzstandards eines virtuosen Trios die ausgelassene Atmosphäre. Aber trotz allem lag ein Schleier von Wehmut über dem Tag. Jeder wusste, dass er die anderen wohl nie mehr wiedersehen wird.« Er wendet sich an von Ketteler. »Sie haben ein Anliegen. Ich hoffe, wir können Ihnen helfen.«
»Seit zwei Jahren leide ich unter chronischen Schmerzen«, beginnt von Ketteler ansatzlos und fährt, ohne eine Reaktion abzuwarten, fort. »Zahlreiche Ärzte stellten mich auf den Kopf, die Ursache wurde jedoch nicht gefunden. Man vermutet Verschiedenes, aber es fehlt die Diagnose und infolgedessen eine wirkungsvolle Therapie. Arzneien helfen mir, ein halbwegs erträgliches Leben zu führen.« Länger als notwendig, um die Zeit abzulesen, schaut er auf seine luxuriöse Sportarmbanduhr. »Vor einem halben Jahr erkrankte ich obendrein lebensbedrohlich. Zwar erhielt ich eine Diagnose, aber die Therapien schlugen nicht ausreichend an. Nun muss ich mich entscheiden. Operation oder nicht. Die Chancen, den Eingriff zu überleben, stehen fünfzig zu fünfzig. Zudem ...«, bedächtig greift er nach der Tasse Tee, umfasst sie eine Weile, und stellt sie wieder zurück auf den Tisch, »... zudem schwächte mich die Therapie des letzten halben Jahres massiv. Meine Energie versiegt und meine Zuversicht schwindet. Denn selbst wenn die Operation glückte - da Erkrankung und Schmerzen nicht in Zusammenhang stehen, blieben die Schmerzen.« Wieder sieht von Ketteler auf die Uhr.
Delius möchte sein Bedauern aussprechen, erachtet den Moment aber für zu pathetisch und verwirft den Gedanken.
Von Ketteler richtet sich wieder an Delius und fährt fort: »Ich benötige Unterstützung. Etwas, das meinen Lebensmut stärkt, mir Hoffnung gibt. Etwas, das mir hilft, eine Entscheidung zu treffen. Etwas Elementares. Ein finales Signal.« Er legt seinen Kopf in den Nacken und schaut durch das Oberlicht in den blauen Himmel. »Ich benötige den Fingerzeig einer höheren Instanz - ein ... Ordalium.« Den Blick weiterhin in den Himmel gerichtet, verstummt er.
›'Ordalium'‹, wiederholt Delius in Gedanken. Der Begriff erscheint ihm unbekannt. Beiläufig notiert er ihn am Rand des Notizblocks.
Wie immer, wenn Klienten ihre Geschichte erzählen, hört Delius konzentriert zu und beobachtet aufmerksam. Er schaut in ein von Furchen und Falten gekennzeichnetes Gesicht, das der schmalen Narbe am oberen Rand des linken Backenknochens beste Voraussetzungen bietet, sich zu verbergen. Von Kettelers Blick aus klaren, blauen Augen wirkt vor dem Hintergrund seiner Geschichte unerwartet wach. Ob die Kopfhaare ausgefallen oder abrasiert sind, kann er nicht beurteilen. Das eigentümlichste Merkmal jedoch, das sämtliche Aufmerksamkeit auf sich lenkt und dessen Präsenz er sich kaum entziehen kann, ist die nahezu im rechten Winkel gebogene, jedoch fein geschnittene Nase.
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