„Worauf warten Sie noch?“, fragt da jemand, „Der Schnaps steht in der Küche!“
Diesmal lache ich wirklich herzlich und ernstgemeint mit allen mit.
Also gehe ich zur Tür und schließe diese unter großem Jubel auf. Alle drängen sich hinter mir ins Haus und verteilen sich blitzschnell in alle Ecken, in denen auch etwas zu Essen steht. Oder etwas zu trinken, denn als erstes fällt mir ein riesiges Fass Bier auf, dass fast den ganzen Flur ausfüllt.
Fast den ganzen Rest des Raumes beansprucht Frau Hufschmied. Sie hat ihren wuchtigen Körper heute wirklich besonders herausgeputzt. Zumindest soll das wohl schick wirken, was sie da trägt: Ein viel zu enges und viel zu buntes Glitzerkleid, eine dazu passende, riesige Hornbrille und als Krönung ein ebenso glitzerndes Band, dass sie dekorativ um ihren Dutt gebunden hat. Nicht zu vergessen die knallrot geschminkten Lippen und gleichfarbigen Ohrringe. Was in jeder normalen Gesellschaft unter der Bezeichnung „Knallbonbon“ für Schmunzeln gesorgt hätte, scheint hier echte Begeisterung hervorzurufen. Jede Menge Frauen stürmen auf Frau Hufschmied ein und beglückwünschen sie zu ihrem Aussehen. Bevor ihre Gesichtsfarbe sich endgültig ihren Ohrringen angleicht, lässt sie ein deutliches: „So, jetzt muss ich aber mal zapfen!“, ertönen.
Auf geht’s. Nach kurzer Zeit habe ich mein zweites Bier in der Hand und gefühlt mit jedem Einwohner, der groß genug ist, ein Bierglas zu halten, mindestens einmal angestoßen. Wo steht nochmal das Essen?
Und da habe ich plötzlich auch schon ein Brötchen mit einer dicken Scheibe Fleisch in der Hand. Ich höre nur noch so etwas wie „selbstgeschlachtet“, bevor ich meine Zähne dankbar darin versenke.
Danach brauche ich „natürlich einen Schnaps“, der auch viel zu schnell schon von seinem Doppelgänger abgelöst wird, denn „auf einem Bein kann man ja nicht stehen“. HAHAHA. Ich höre nur noch „selbstgebrannt“.
Plötzlich sitze ich in meinem neuen Arbeitszimmer und merke, wie mehrere Kameras auf mich gerichtet sind. Da es sich zum Glück nur um Fotoapparate handelt, kann ich die Situation durch ein strahlendes Lächeln retten.
Ebenso plötzlich, wie sie erschienen sind, sind alle wieder weg und ich sitze alleine in meinem Sessel. Meine Güte, was ist da in dem Schnaps drin?
Frau Hufschmied betritt mit einem Tablett das Zimmer. „Na, das war ja mal ein lustiger Empfang. (PAUSE) Aber jetzt dachte ich mir, dass Sie bestimmt Hunger haben!? (FRAGENDE PAUSE) Na? (AUFFORNDERNDE PAUSE) Haben Sie Hunger?“
Faszinierend, wie sie ihre Pausen betonen kann.
Schnell schließe ich meinen Mund, der mir, wie ich feststelle, vor Konzentration auf die Worte und die Pausen aufgesprungen zu sein scheint. Und ich muss zugeben, dass ich dankbar bin: „Ja, gerne, nichts lieber als das!“
Glaube ich, gesagt zu haben. An dem kurzzeitig verwirrten Blick meiner neuen Sekretärin kann ich erkennen, dass ich vielleicht nicht ganz so wohlartikuliert geklungen habe, aber das ist mir jetzt egal. Ich entreiße ihr förmlich das Tablett, kurz bevor sie es auf dem Tisch vor mir abstellt und verschlinge Käsebrötchen, Mettwürste und Frikadellen.
Als das Tablett abgefressen ist, lehne ich mich zufrieden zurück, seufze und sage: „Danke, das war wirklich gut. Der Schnaps hätte mich fast umgebracht. Was ist das für Zeug?“
Glaube ich, gesagt zu haben. Auch diesmal schaut Frau Hufschmied ganz kurz verwirrt, dann aber schon deutlich belustigter. Nach einer vielsagenden Pause gibt sie endlich zu: „Ach, beim Hinnerk, also dem Herrn Bauer, weiß man das so genau eigentlich nie...“
Ich winke ab, will den Rest nicht hören. Ich muss mich hinlegen. Schnell.
Mühsam erhebe ich mich und deute nur nach oben. Frau Hufschmied versteht und hält mir die Tür auf. Ich ziele direkt auf den Schrank daneben, kriege noch die Kurve und bin so schön im Schwung, dass ich auch direkt die Treppe ins Obergeschoss treffe. „Zweite Tür links!“, höre ich Frau Hufschmied noch rufen.
Gute Idee. Toilette.
Das Wasser aus dem Hahn ist zum Glück eiskalt, sodass meine Lebensgeister wieder etwas geweckt werden. Nichtsdestotrotz bin ich echt erschlagen und beschließe, mich hinzulegen.
Meinen Koffer kann ich auch nachher noch holen, immerhin ist Sonntag. Und wer soll hier schon was klauen? Vor allem: Wo sollte jemand etwas, geschweige denn sich selber, verstecken? Mit diesen Gedanken schlummere ich, angezogen und ausgestreckt, auf meinem neuen Bett ein.
Mit dem Gedanken: „Wo bin ich? Was ist das für ein Bett?“, schrecke ich ungefähr eine Stunde später hoch. Ach ja: Ich bin jetzt Landarzt.
Erschöpft lasse ich mich wieder auf das Kissen sinken und betrachte meine Umgebung. Mein Schlafzimmer ist eines alten Hauses würdig eingerichtet: Dunkles Holz, schwere und große Schränke, Gardinen mit Blümchenmuster vor den kleinen Fenstern, ein Waschbecken in der Ecke des Raumes. Oje, wo bin ich hier nur hineingeraten.
Mühevoll erhebe ich mich und verlasse das Zimmer. Auch der Flur ist ähnlich dunkel gehalten, das Fenster am Ende ist allerdings größer als im Schlafzimmer. „Das Licht am Ende des Tunnels“, kommt mir spontan in den Sinn. Ich gehe aber erst einmal Gegenüber ins Badezimmer. Zum einen möchte ich überprüfen, wie zerknittert ich vom Schlafen bin, zum anderen bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich vorhin irgendwelche Handtücher auf den Boden geschmissen habe.
Nach diesem kurzen Zwischenstopp – alles soweit ok! – gehe ich die Treppe hinunter und zur Vordertür hinaus. Wie erwartet steht mein Auto noch da, wo ich es abgestellt habe. Sogar die Tür ist noch auf und der Schlüssel steckt noch. Das ist ja mal ein Service. Da kann ich das Auto ja direkt mal auf den Parkplatz mit der „Arzt“-Markierung fahren. Vorhin standen da so viele Leute, dass ich das nicht erledigen konnte.
Mit dem Koffer in der Hand gehe ich zurück ins Haus und treffe auf Frau Hufschmied. „Na, wieder alles gut?“ Vor Schreck lasse ich fast den Koffer fallen: Eine kurze Frage, ganz ohne Pause? So betrunken bin ich noch?
„Ja, also (Pause) wie soll ich sagen...“ beginne ich und unterbreche mich. Hat dieser Alkohol etwa dafür gesorgt, dass ich mit meiner Sekretärin die Rollen getauscht habe? Konzentration, nochmal: „Ja. Alles wieder gut. Da war die Erschöpfung größer als gedacht.“
Frau Hufschmied lächelt freundlich und sagt nach einer musternden Pause: „Wenn Sie ausgepackt haben, können Sie ja noch mal runterkommen. (PAUSE) Es wäre gut, wenn wir uns mal zusammensetzen würden. (FRAGENDE PAUSE) Beruflich? (UNGEDULDIGE PAUSE) Nachher?“
Puh, alles wieder normal!
„Ja klar, ich beeile mich!“ Immerhin will ich mich hier ja nicht häuslich niederlassen, setze ich in Gedanken hinzu.
Wenige Minuten später treffe ich also wieder in meinem neuen Arbeitszimmer ein. Da das Vorzimmer nicht auf dem Weg liegt, rufe ich Frau Hufschmied zu mir, die auch sofort auf ihren knallgrünen Pumps hereinstolziert kommt. Diese Schuhe waren mir noch gar nicht aufgefallen. Zum Glück, sonst hätte der Schnaps wohl noch schneller und heftiger gewirkt.
Ich will nicht ins Detail gehen, was die nächste Stunde angeht, denn die Ausführungen von Frau Hufschmied sind extrem ausschweifend. Eine qualifizierte Fachkraft hätte mir wohl in wenigen Minuten erklärt, was ich wo finde, aber sowas kann ich in diesem Dorf wohl nicht erwarten. Immerhin kann sie alles erklären und ich verstehe alles. Ein Anfang.
Kurz bevor Frau Hufschmied mich verlässt, fällt mir meine Frage von heute Morgen wieder ein: „Sagen Sie mal, Frau Hufschmied, woher wussten Sie nun, dass ich genau dann ins Dorf komme?“
Frau Hufschmied lächelt nachgiebig. Nach einer erwartungssteigernden Pause erklärt sie: „Also, Herr Doktor, wissen Sie, hier auf dem Lande ist ebendieses ja sehr platt. (AUFFORDERNDE PAUSE) Deshalb haben wir hier den Vorteil, alles früh zu sehen. (BELUSTIGTE PAUSE) Nicht, dass das der einzige Vorteil wäre, aber das würde zu weit führen. (BELUSTIGTE PAUSE) Und wie sagt man so schön? (FRAGENDE PAUSE) Wir können morgens um 9 schon sehen, wer uns abends um 18 Uhr besuchen kommt. (FRÖHLICHE PAUSE) Nun, jedenfalls habe ich hier auf der Veranda gesessen und in Richtung Landstraße geguckt. (ERWARTUNGSVOLLE PAUSE) Ich wusste ja spätestens nach ihrem Anruf ungefähr, wann Sie kommen. (NOCH FRÖHLICHERE PAUSE) Jedenfalls habe ich Sie gesehen. (ZÖGERNDE PAUSE) Also Ihr Auto, beziehungsweise eine Sandwolke. (VERSTÄNDNIS SUCHENDE PAUSE) Und dann habe ich alle zusammengetrommelt.“
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