Es dauerte nur kurze Zeit, bis der Kellner die Halbliterkaraffe mit dem Wein sowie zwei große langstielige Gläser brachte und ihnen stilvoll einschenkte. Sie stießen an.
„Auf die Zukunft!“, sagte der Vater.
„Auf amore!“, entgegnete Bernhard mit herausforderndem Lachen. Der Alte ließ sich dadurch aber überhaupt nicht aus der Ruhe bringen, genoss den ersten Wärme verbreitenden Schluck und wollte dann seinen Sohn beim Wort nehmen.
„Apropos Amore. Sorry, wenn ich jetzt etwas direkt bin. Aber ich frage mich schon seit einiger Zeit, ob ich mir über deine, sagen wir, etwas ungewöhnliche Kleeblattsituation mit Janine und Berenice Sorgen machen muss oder mich einfach amüsieren kann 4.“
Jetzt wurde Bernhard etwas mulmig und er entgegnete verlegen: „Merkwürdige Alternative.“
„Naja, als das anfing, dachte ich, du wirst dich doch bald einmal für die eine oder die andere entscheiden. Aber es tut sich nichts. Sag mal, kannst du nicht oder willst du nicht?“
Damit brachte ihn der Vater noch mehr in Verlegenheit, denn er wollte darüber eigentlich gar nicht nachdenken. Er brauchte viel Zeit, ehe er etwas stockend antwortete.
„Also, wenn du mich so direkt fragst, ich kann das eigentlich gar nicht wirklich unterscheiden. Es ist, … wie soll ich sagen, … keine Ahnung, … irgendwas Drittes.“
„Das versteh ich jetzt gar nicht. Kannst du mir das genauer erklären?“
„Also, … ich versuch es mal so rum. Wir machen ja zusammen dieses Buchprojekt mit den beiden Altchen im Michaelistift 5. Übrigens sind wir fast fertig. Ein Profi, ein Journalist, den Hannah gut kennt, liest gerade das fertige Manuskript. … Ja, das war einfach eine geile Zeit. Wir sind offenbar ein gutes Team. … Natürlich gab‘s auch mal Streit. Aber es war immer ein, na ja, produktiver Streit. Dabei ist irgendwie, keine Ahnung, etwas ganz Tolles entstanden. Würd ich jetzt mit einer von den beiden so ‘ne konventionelle Beziehung eingehen, würd ich das kaputtmachen. Und das will ich nicht.“
Jetzt wurde der Vater nachdenklich. Bernhard stand offensichtlich im Spannungsfeld zwischen Gefühl und Konvention und fand alleine nicht heraus. Er sah sich gefordert. Als Vater musste er versuchen, ihm zu helfen. Er begann ganz vorsichtig.
„Was mich zuerst interessiert: Weißt du, wie die beiden jungen Damen darüber denken?“
„Gesprochen haben wir darüber nie. Aber ich bin ziemlich sicher, die sehen das ähnlich.“
„Irgendwie klingt mir das alles zu rational. Verdammt, ihr seid jung. Da steuern nun mal die Hormone das Verhalten viel mehr als der Kopf. Wie macht ihr das denn? Ihr seid doch keine geschlechtslosen Wesen. Das muss doch ständig irgendwie knistern, oder?“
Bernhard sagte nichts.
„Du brauchst nicht zu antworten. Ich bin schließlich auch ein Mann und kann mich noch recht gut an die Zeit erinnern, als ich in deinem Alter war. Natürlich willst du mit beiden zusammen sein und natürlich nicht nur beim Erstellen eines Buches. Anders kann das doch gar nicht sein.“
Der Vater wartete lange auf eine Reaktion. Doch Bernhard stierte auf sein Weinglas, ohne daraus zu trinken.
„Wovor hast du Bammel?“
„Was heißt ‚Bammel‘? So was geht doch einfach nicht, vor allem nicht auf Dauer.“
„Warum geht das nicht?“
„Weil … weil …“
„Weil unsere kulturelle Tradition das nicht zulässt? Weil die Natur – oder der liebe Gott – die Zweierbeziehung favorisiert?“
„Ja … so etwa …“ und er lachte.
„Ich sag dir mal eins. Es sind schon unzählige Menschen vor die Hunde gegangen, weil sie mit irgendwelchen religiösen oder bürgerlichen Moralgesetzen in Konflikt geraten sind. Sie haben sich entweder verbiegen müssen, um sie zu erfüllen, und sind deswegen seelisch krank geworden, oder sie wurden mit Ausgrenzung oder Sanktionen konfrontiert oder auch stigmatisiert, weil sie sie bewusst missachtet haben. Solche Moralgesetze können nicht gut sein. Man darf sie ignorieren.“
Über einen solchen Frontalangriff auf die bürgerliche Moral war Bernhard schon fast entsetzt. Von seinem Vater hätte er das jetzt gar nicht erwartet.
„Also kann jeder machen, was er will?“
„Natürlich – solange er damit niemandem schadet. Das kannst du an prominenter Stelle nachlesen. Weißt du, wo?“
Bernhard sah ihn nur fragend an.
„Grundgesetz, Artikel 1! – Aber lass mich dir eine Geschichte erzählen, die dein spezielles Problem auf den Punkt bringt. Der junge Goethe, fünfundzwanzig war er da etwa, hat ein Theaterstück geschrieben über eine Dreierbeziehung. ‚Stella‘ heißt es. Kennst du es?“
„Nein.“
„Das alte Lied. Man lernt in der Schule nicht die wichtigen Dinge. Aber zurück zu Goethe. Das Stück endet in einem ménage à trois, also einer Ehe zu dritt. Da war vielleicht was los. Empörung allenthalben. Ein Schlag ins Gesicht der bürgerlichen Moral. Das Stück war kaum aufführbar. Und wenn, wurde es nach ein, zwei Aufführungen wieder abgesetzt oder sogar polizeilich verboten.“
„Wen wundert’s, vor allem in der damaligen Zeit.“
„Stimmt. Bis dahin war das auch nichts Besonderes. So etwas kam öfter vor, damals. Aber was etwa fünfundzwanzig Jahre später geschah, macht mich immer wieder fassungslos. Schiller, der rigorose Moralist, schlug Goethe vor, das Stück noch einmal herauszubringen, aber mit verändertem Schluss. Goethe machte jetzt eine Tragödie daraus. Die ersten vier Akte blieben unverändert, aber im fünften bringen sich jetzt zwei der drei Protagonisten um. So wurde das Stück jetzt noch einmal aufgeführt. Es war zwar nicht der große Erfolg. Aber moralische Bedenken hatte jetzt niemand mehr.“
„Tja, so war das halt damals.“
„Verdammt, wie kannst du das einfach so hinnehmen? Empört dich das nicht? Das ist doch eine völlig perverse Moral. Wenn sich drei Menschen lieben und beschließen zusammenzuleben, ist das angeblich unmoralisch. Es darf nicht sein, so was muss man verbieten. Wenn sich stattdessen zwei davon erschießen, dann ist alles o. k., eben eine menschliche Tragödie, da kann man nach Herzenslust mitheulen.“
Der Vater hatte sich in Fahrt geredet und hielt einen Moment inne. Bernhard antwortete nicht, schüttelte nur unverständlich murmelnd den Kopf.
„Und apropos ‚damals‘ “, fuhr der Alte fort. „Irrtum! Fast zweihundert Jahre später galt das auch noch so.“
„Jetzt übertreibst du aber.“
„Keine Spur. Pass auf! Der Bertelsmann Verlag machte es sich Mitte letzten Jahrhunderts zur Aufgabe, im sogenannten ‚Lesering‘ große Literatur auch dem kleinen Mann zugänglich zu machen. Dabei hatte er auch eine siebenbändige Goetheausgabe herausgebracht. Die steht heute noch in vielen Haushalten. Da ist auch ‚Stella‘ drin. Rat mal, in welcher Fassung.“
„Wenn du schon so fragst, sicher die Tragödie.“
„Natürlich, und jetzt kommt der Hammer. Auf die Urfassung wird nicht einmal mit einer Fußnote hingewiesen. Man durfte doch dem einfachen Volk nicht verraten, wie unmoralisch Goethe war.“
Inzwischen hatten sie ihre Pizza gegessen und auch die dritte Halbliterkaraffe Montepulciano geleert.
„Ich kann jetzt irgendwie nicht mehr. Ich muss jetzt schlafen“, meinte Bernhard erschöpft.
Als sie gezahlt und das Lokal verlassen hatten, blieb der Vater plötzlich stehen.
„Aber eines muss ich dir noch sagen. Ich fand es ganz toll.“
„Was denn?“
„Mit dir so offen sprechen zu können. Danke.“
Er umarmte ihn und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
Bernhard wusste nicht recht, wie er reagieren sollte, so überrascht war er von dem ungewohnten Gefühlsausbruch seines alten Herrn. Seit seiner Kindheit hatte er das nicht mehr erlebt.
Schweigend gingen Vater und Sohn nebeneinander her, bis sie zur Theodor-Heuss-Brücke kamen. Der Pulverdampf hatte sich verzogen und die Luft war wieder klar. Im silbrig-hellen Mondlicht glitzerte am gegenüberliegenden Neckarufer die tiefverschneite Altstadt mit Schloss und Alter Brücke, ein wahrhaft unvergleichlicher Anblick, der sie augenblicklich in seinen Bann zog. Lange blieben sie wortlos stehen, ehe der Alte sagte: „Mir wird kalt. Ich ruf uns jetzt ein Taxi.“
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