Nur, so sehr sie sich mühten und später den Rat zahlloser Ärzte einholten: es sollten keine Kinder kommen. In ihrer Sehnsucht entwickelte Viola ein immer trister erscheinendes Wesen. Anfangs hatte Krauser nichts unversucht gelassen, um für sie da zu sein, wann immer sie ihn brauchte. An ihrem melancholischen Zustand änderte es wenig. Zermürbt von den ewig wiederkehrenden Rückschlägen, verlor er die Hoffnung. Nicht von einem Tag auf den anderen. Es war ein schleichender Prozess, der allerdings durch das Leben in dem bedrückenden Haus beschleunigt wurde. Mit der Zeit wuchs in ihm der Wunsch nach einer Rückkehr in die Stadt immer stärker heran. Schließlich nahm er seine eingefahrene Karriere als Anlass zur Flucht. Unzählige Diskussionen, mit der tränenüberströmten Viola verbrachte Abende und ihre weiteres Abgleiten in die Depression ließen seinen Entschluss nur fester, seine Abneigung gegen das bisherige Leben umso größer werden. Für ihn stand unverrückbar fest: Er brauchte eine neue Aufgabe, er musste raus aus der häuslichen Enge. Einen Monat später schrieb er sich zur Fortbildung in den höheren Dienst ein. Erste Station: Betäubungsmitteldelikte.
Während Viola immer stiller wurde, lebte Krauser in den folgenden Monaten regelrecht auf. Nachdem er die abschließenden Prüfungen bestanden hatte, ließ er sich auf eine freie Stelle im Präsidium versetzen. Dem Gebiet BTM blieb er treu, wechselte dort in den Bereich Fahndung.
Hatten seine alten Kollegen auf der Wache eine relativ homogene Gruppe dargestellt, so traf er in der neuen Abteilung auf einen bunten Haufen verschiedenster Charaktere. So war es für Krauser nicht verwunderlich, dass die Truppe von einem ehemaligen General aus altem Adel straff organisiert wurde. Dass dieser, Franz zu Oldenburg, während Krausers Dienstzeit bei den Feldjägern für kurze Zeit Kommandant seines Bataillons gewesen war, sollte sich später als sehr vorteilhaft für den Neueinsteiger erweisen. Zu Beginn aber schob er Dienst wie die übrigen Neulinge und damit um einiges mehr, als die etablierten Kollegen. Es machte ihm nichts aus, auch nicht, dass er bei den Observationen Stunde um Stunde in Autos, angemieteten Wohnungen oder anderen Orten zubringen musste. Die Aussicht auf die Teilnahme an einer der testosteronhaltigen Razzien oder der spontane Abgriff eines Kleindealers ließen ihn leicht über die neunzig Prozent routinemäßiger Ödnis hinwegkommen. Lediglich Anblick und Gestank der ausgemergelten, aus dem Leben gestoßenen Drogentoten mit ihren Abszessen und vernarbten Einstichwunden brachten ihn zu Beginn um den Schlaf. Noch mehr Arbeit und Koffein aber halfen und so hängte er wie alle anderen eine Überstunde an die Nächste. Hatte er anfänglich noch Wert auf ein ausgewogenes Verhältnis seiner Tag- und Nachtschichten gelegt, so bevorzugte er mit der Zeit mehr und mehr die Nachtarbeit. Angesichts all der Familienväter in der Abteilung mit ihrer Vorliebe für geregelte Arbeitszeiten fiel es ihm leicht, dies zu realisieren.
Kam er nachts oder früh morgens nach Ammersbek, lag Viola meist noch schlafend im Bett. Wenn er leise neben sie kroch, konnte er ihre Nähe und Wärme spüren, ohne mit ihr zu reden oder ihren gequälten Blick ertragen zu müssen. Ein guter Kompromiss , dachte er jedenfalls anfänglich.
Warum musste der Wagen so abgenutzte Reifen haben? Er konnte froh sein, wenn der Peugeot nicht in dem Morast steckenblieb. Obwohl der Mann das Gaspedal nur mit minimalem Druck bearbeitete, drehten die Räder pausenlos durch, während sie mühsam den schlammigen Parcours über den unbefestigten Feldweg bewältigten. Den Blick starr geradeaus auf den menschenleeren Weg gerichtet, fuhr der Mann langsam weiter. Nur Offroad-Freaks würden sich auf diese Piste trauen und der Mann erwartete nicht, bei dem schlechten Wetter auf welche zu treffen. Er lauschte nach hinten, vernahm jedoch keine Geräusche aus dem Kofferraum. Leise summte er eine Melodie, die er seit der Abfahrt von der Autobahn auf den Lippen hatte. Eine zusammengefaltete Landkarte lag neben ihm auf dem Beifahrersitz. Parallel zu ihnen, in etwa zwei Kilometer Entfernung verlief die alte Landstraße. In einer guten Stunde würde Piet dort auf einem kleinen Rastplatz halten und ihn aufnehmen.
Nach mehreren Minuten weiteren Schlitterns und Stockens bog er auf einen Pfad, der ihn tiefer in den Wald hineinführen würde. Alles verlief nach Plan, bis der Wagen nach wenigen Metern mit einem dumpfen Schlag auf einem bemoosten Baumstumpf aufsetzte. Während der stramm sitzende Gurt bei dem Mann Schlimmeres verhinderte, hörte er aus dem Kofferraum ein lautes Rumpeln. Von einem letzten Stottern begleitet erstarb der Motor.
Mit der Hand fasste sich der Mann an das unter dem Gurt liegende, schmerzende Schlüsselbein und hielt einen Moment fluchend inne. Bis auf die Laute des auf die Windschutzscheibe tropfenden Regens war es totenstill. Vorsichtig öffnete er die Fahrertür und schaute auf den matschigen Boden. Er drehte sich um und griff nach den auf der Rückbank liegenden Gummistiefeln. Nachdem er seine Halbschuhe ausgezogen und in eine Plastiktüte gestopft hatte, griff er sich das dunkelgraue Regencape und eine Taschenlampe. Damit stieg er aus und blickte nach oben, wo die dicht geballten Wolken die einsetzende Dämmerung noch verstärkten. Um ihn herum ragte schwarz eine Reihe Tannen in den Himmel. Es roch nach nassem Holz und modernden Blättern. Der Platz war optimal. Wegen des Regens würde er nur etwas mehr Benzin benötigen.
Sorgsam einen Fuß vor den anderen setzend ging er zum Kofferraum. Er drückte auf den Verschluss, aber die Klappe öffnete sich nicht. Sie musste sich bei dem Aufprall verzogen haben. Erst nachdem er heftig an dem Blech rüttelte, öffnete sie sich mit einem metallischen Knirschen. Der Mann trat einen Schritt zurück und leuchtete mit der Taschenlampe in den dunklen Innenraum.
Der an Knöcheln und Handgelenken gefesselte Andy lag regungslos auf dem Rücken. Vorsichtig beugte sich der Mann näher und stieß ihn prüfend mit dem Ende der Mag-Lite in den Bauch. Nichts. Er richtete den Strahl der Lampe auf den Kopf des Jungen, der in einem grotesken Winkel auf seinem Hals saß. Der Schein traf Andys halboffene Augen, die ihn leblos anblickten. Aus einer Wunde unter dem Haaransatz sickerte Blut auf das unverkleidete Blech. Der Mann legte seine Finger auf die Halsschlagader. Er fühlte keinen Puls. Der Junge musste sich beim Aufprall das Genick gebrochen haben. Nein, geplant war das nicht! Er zuckte mit den Schultern, richtete sich auf und stieß sich dabei den Kopf an der halboffenen Klappe. Der ursprünglicher Plan war gewesen, Andy eine ordentliche Abreibung zu verpassen und ihn im Licht des brennenden Autos an einen der Baumstämme gefesselt zurückzulassen. Als Warnung an ihn und Malik. Und jetzt? Jetzt hatte er eine Leiche. Kopfschüttelnd stieß er die Klappe wieder zu. Dann ging er zur Beifahrertür und rüttelte an ihr. Sie hatte sich nicht verzogen, ließ sich problemlos öffnen. Er nahm die Tüte mit seinen Schuhen und vergewisserte sich, dass nichts mehr von ihm im Wagen lag. Dann folgte er ein paar Schritte der Reifenspur und legte die Tüte auf einem im Matsch liegenden toten Baumstamm ab. Verlassen stand der Peugeot da und kurz überlegte der Mann, die Tüte zu nehmen und einfach zu gehen. Schnell verwarf er den Gedanke wieder. Stattdessen schritt er entschlossen zurück und griff nach dem Kanister.
Gurgelnd ergoss sich das Benzin auf Polster und Armaturenbrett, dann über Dach, Motorhaube und Kofferraum. Nachdem er ein Handtuch mit dem Treibstoff getränkt hatte, warf der Mann den dreiviertelleeren Kanister auf die Rückbank, trat zurück und griff nach einem Feuerzeug. Lodernd flammte der Lappen auf und mit einer Drehbewegung der Hand warf er ihn durch die offen stehende Tür. Die Handschuhe zog er aus, warf sie hinterher und eilte, so rasch es die klobigen Gummistiefel zuließen, zu dem Stamm. Von dort aus sah er zurück. Die Flammen hatten inzwischen die Karosserie erfasst. In nicht zu langer Zeit würden Kanister und Tank explodieren. Er griff nach der Tüte und wandte sich zum gehen. Er würde sich beeilen müssen, wenn er es rechtzeitig zu Piet schaffen wollte.
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