Zwei gegen acht. Sie hatten keine Chance. Mit dieser Gewissheit wehrte der Mann die ersten Hiebe ab, während er im Gegenzug einige Treffer bei seinen weniger routinierten Widersachern landete. Piet daneben hielt sich ähnlich gut, obwohl er bereits aus einer Platzwunde auf der Stirn stark blutete. Seit Piets Pfiff und dem ersten Schlag waren keine dreißig Sekunden vergangen, als mit lautem Motorenlärm und aufgeblendeten Scheinwerfern der Lieferwagen die Barriere durchbrach und in der Mitte des Hofs zum Stehen kam. Sofort öffnete sich die seitliche Schiebtür und ihre Helfer sprangen heraus. Weitere dreißig Sekunden später stand von den Angreifern keiner mehr. Bis auf vereinzelte, stöhnende Laute war es still.
Der Mann nahm den Schuldschein mit der offenen Forderung, ging zu einem der gekrümmt auf der Erde Liegenden. Er beugte sich zu ihm nieder, zog sein Messer und rammte es mit dem aufgespießten Zettel durch dessen linke Hand in den Boden. Ein gellender Schmerzensschrei hallte durch die Nacht, sie aber stiegen wortlos in den Wagen und fuhren zu Schlosser.
Auf der Rückfahrt noch beschloss der Mann, keine Aufträge mehr anzunehmen. In den letzten Jahren hatte er ein wenig Geld beiseite legen können. Viel brauchte er sowieso nicht. Er hatte alle Rechnungen beglichen und schuldete niemandem etwas.
Mit Ausnahme von Schlosser, für seine kleine Unterstützung an diesem Abend
Sorgfältig nahm er jedes der Pakete nacheinander in die Hand, befreite sie aus ihrer Wachspapierverpackung und legte sie vor sich auf den Tisch. Ein feiner Geruch nach geöltem Metall stieg ihm in die Nase, als er die matt glänzende Glock betrachtete. Neben der Waffe lagen das Magazin, eine Schachtel Patronen und der Schalldämpfer. Der dunkelbraune Lederbeutel daneben enthielt einen slowakischen Pass und etwa zehntausend Euro in bar. Zusammen mit dem Geld, dass er Rania abgenommen hatte, würde es für die Jagd reichen.
Bei dem kleinen Funkwellenscanner prüfte der Mann den Status der Batterien, eher er ihn wieder zur Seite legte. Dann ging er hinüber ins Schlafzimmer und kehrte mit einer Reisetasche aus reißfestem Nylon zurück. Er packte die Gegenstände hinein und ging zum Kleiderschrank, dem er sorgsam eine Auswahl an Wäsche entnahm. Die Tasche legte er auf das Fußende des Betts und setzte sich daneben. Er sah auf die Uhr. Viertel nach Zwölf.
Aller Voraussicht stand ihm morgen ein langer Tag bevor. Also zog er Hemd, Hose und Schuhe aus, legte sich hin und löschte das Licht. Eingeschaltet lag der Blackberry neben ihm. Sollte Malik sich mit seinem Handy in ein Netz eloggen, würde er ihn mit einem lauten Alarmton wecken. Nur zu, Junge , dachte der Mann und schlief ein.
Mit seiner im Schein der Laterne schmutzig grau schimmernden, schindelverkleideten Fassade und dem wild wuchernden Unkraut davor, vermittelte der Gasthof auf Malik einen heruntergekommenen Eindruck. Aber er hatte geöffnet und Malik keine Lust, in der Einöde bei Schwerin nach einer ansprechenderen Unterkunft zu suchen. Außerdem war er müde . Also parkte er seinen Wagen auf dem unebenen Kiesbett neben dem Eingang, schnappte sich den Koffer und ging durch die giftgrün gestrichene Tür in einen nach kaltem Rauch und Desinfektionsmitteln riechenden Wirtsraum. Hinter dem Tresen stand eine Frau in einem abgewetzten roten Kittel. Mit missmutiger Miene schaute sie von einer Illustrierten auf und musterte ihn misstrauisch. Von Alter, Statur, Herkunft und Kleidung her passte er so gar nicht zu ihrer Dorfklientel. „Zu essen gibt’s nichts mehr. Wir schließen gleich.“
„Ich möchte auch nichts essen. Ich brauche ein Zimmer.“
Ihr Ausdruck wurde noch argwöhnischer.
„Achtzig Euro. Und nur mit Vorkasse.“
Stolzer Preis für die durchgelegene Matratze in einem verstaubten Siebziger Jahre-Zimmer , dachte Malik, während er in den Taschen nach dem Geld suchte. „Hier. Behalten Sie den Rest. Ich hätte gern drei Flaschen Bier dazu.“ Damit legte er zwei Fünfziger auf den Tisch, die die Wirtin flink in der Brusttasche ihres Kittels verstaute. Mit einer ihr gar nicht zugetrauten Geschwindigkeit griff sie in den Kühlschrank, zog drei Halbliterflaschen hervor und nahm den an einem klobigen Holzpflock gebundenen Schlüssel aus der Schublade darüber. Dann erhob sie sich von dem knackenden Schemel und ging ihm voran durch den Vorraum zu einer Treppe. Sie deutete nach oben. „Mittlere Tür auf der linken Seite. Und den Fernseher nicht zu laut.“ Damit übergab sie ihm Schlüssel und Bierflaschen und deutete mit einem missbilligenden Kopfnicken den Weg die Treppe hinauf. Malik nickte ihr wortlos zu und stieg die Stufen empor. Im Zimmer angekommen verschloss er sorgfältig die Tür, warf den Koffer aufs Bett und öffnete die erste Flasche. Genüsslich nahm er zwei Züge, ließ sich dann neben den Koffer fallen und schloss die Augen. Wie gut das tat!
Mit einigen weiteren Schlucken leerte er die Flasche und griff nach der nächsten. Vielleicht half der Alkohol ja und lenkte ihn von all den trüben Gedanken über Andys und seine Lage ab.
Der Himmel war noch dunkel, als der Mann erwachte und auf der Suche nach ersten Anzeichen des nahenden Tages aus dem Fenster sah. Noch alles dunkel. Trotzdem stand er auf, duschte und trank im stehen zwei Gläser Leitungswasser, während er seine Gedanken ordnete. Gerade wollte er sich einen Filterkaffee aufsetzen, als aus dem Schlafzimmer ein Warnton schrillte. Er eilte hinüber und hob das Smartphone vom Boden. Sein Anzeigefeld leuchtete hellblau. Der Mann musste lächeln. Malik war wieder On Air .
Die nach wenigen Augenblicken aktivierte GPS-Ortung lokalisierte sein Ziel südlich von Schwerin. Was wollte der Junge denn da? Nachdenklich legte der Mann das Gerät beiseite. Wenn er sich beeilte, könnte er in zwei Stunden dort sein. Jetzt war es zehn vor sechs. Der Mann packte zügig den Rest in die Tasche und sah sich noch einmal um. So unscheinbar die Wohnung war, er würde sie doch vermissen. Dann ging er hinaus, verschloss die Tür und verließ das Haus.
Der Ford war vollgetankt und so fuhr er durch die noch leeren Straßen direkt in Richtung Autobahn. In den Verkehrsmeldungen wurde kein Stau auf der Strecke gemeldet. Er würde gut durchkommen und pünktlich zum Frühstück bei Malik sein.
Beide Geräte, der Blackberry und Andys Handy, lagen griffbereit in der Mittelkonsole. Das der Junge derart nervös war und schon kurz nach fünf in an seinem Telefon hantierte, wunderte den Mann nicht. Knapp dreihunderttausend unterm Kopfkissen. Und die auch noch von Schlosser gestohlen...
Die drei Flaschen hatten ihm leider nicht zu dem ersehnten Schlaf verholfen. Stattdessen war er während der Nacht immer wieder wach geworden, hatte dabei jedes Mal nervös nach dem Koffer getastet. Die Biere hatten einen unangenehmen Geschmack auf der Zunge hinterlassen. Er ging ins Bad und trank aus dem Wasserhahn. Dann schaute er sich im Spiegel an und befingerte sein Gesicht. Der sprießende Bart begann zu kratzen. Natürlich hatte er seinen Rasierer ebenso wenig dabei wie eine Zahnbürste. Außerdem war der Akku seines Handys nicht mal mehr halbvoll. Er brauchte unbedingt ein Ladegerät. Mit einem mulmigen Gefühl im Magen schaltete Malik das Gerät ein und wartete. Überrascht registrierte er nach ein paar Sekunden, dass er keine Nachrichten erhalten hatte. Auch keine SMS, nur ein paar Anrufer, die aber nicht auf den AB gesprochen hatten. Er sah auf die Liste. Einmal hatte es Rania versucht, Andy fünfmal. Warum nur hatte ihm keiner von beiden auf die Mailbox gesprochen? Testweise versuchte Malik es auf Andys Apparat und zuckte überrascht zusammen, als er am anderen Ende das Freizeichen vernahm. Nach viermaligem Klingeln schaltete sich die Mailbox ein und Malik legte auf. Nervös lief er ein paar Mal über dem knarzenden Dielen im Zimmer auf und ab, zog sich dann an und schlich mit dem Koffer im Arm leise die Treppe hinunter. Ein Zusammentreffen mit der Dame des Hauses wollte er möglichst umgehen.
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