„Was wollen Sie?“ Claudia raste innerlich. Sie musste das Thema wechseln. „Das Ambiente Ihrer Aufführung hat sicherlich einen bestimmten Grund.“ Vielleicht schmeichelte ihm das. „Links der Dom und rechts das Rathaus. …sonst hätte es doch auch der Tivoli getan. Was wollen Sie denn?“ Claudia verlor wieder die Fassung und schrie die Frage heraus. Sie litt mit dem Gefolterten.
„Sehr kluge Gedanken. Ich überlasse Ihnen einige Zeit den Weg der Fragen zu bestimmen. Wie kommen Sie darauf?“ Er klang weiterhin gelassen und ließ ihren Ausrutscher unkommentiert.
„Sie haben sicherlich kein Interesse an einem geschichtlichen Vortrag.“
„Nur zu. Vielleicht lerne ich dazu.“
„Ich denke…“, Claudia stockte und verarbeitete Marias Informationen. „Dieser Hof hier…“
„Und?“
„Was und?“, Claudia wurde ungehalten. Der Situation war sie nicht gewachsen. „Ich stehe hier, wie eine Pennälerin und lasse mich von Ihnen testen. Dazu hab‘ ich keinen Bock. Es mag ja sein, dass sie Gründe haben, den Priester an den Pranger zu stellen… aber ich bin ich und hab‘ keine Lust vor, wer weiß wie viel, Zuschauern ebenso angeprangert zu werden.“
„Es tut mir unendlich leid“, die Stimme wurde spöttisch. „Stellen Sie ihr Ego hinten an. Sie sind Vertreterin des Rechtssystems, Frau Plum. Für Ihren Job werden Sie bezahlt.“
„Also gut“, maßlose Wut stieg in Claudia hoch. Sie unterdrückte ihre Emotionen und schluckte hinunter, was sie sagen wollte. „Pater Anselm steht am Pranger… weshalb?“
„Finden Sie es heraus.“
Jetzt lief das Fass über. Sie stand auf.
„Ich werde es herausfinden. Kommen Sie“, forderte sie den Psychologen des LKA auf.
„Halt“, der Unbekannte hielt sie zurück. „Sie werden mich jetzt nicht verlassen.“
„Ich verlasse Sie nicht. Ich muss ohne Ihre werte Präsenz mit Herrn Werner sprechen.“
„Sie müssen gar nichts.“ Die Stimme wurde ungehalten. „Sie bleiben hier an dieser Stelle. Denken Sie an Pater Anselm.“
„ Claudia mache keinen Unsinn.“ Krüger flüsterte warnend in ihr Ohr.
Verdammt. Weshalb ließ dieser verdammte Verein sie nicht in Ruhe? Immer quasselte Krüger dazwischen. Der Typ wollte sie, also musste er mit ihr leben. Claudia traute sich mit Fortschreiten der Unterhaltung durchaus zu, den Peiniger des Paters aus der Reserve zu locken. Gut Krüger, ich versuche es noch einmal, dachte sie.
„Der Katschhof wurde im Mittelalter zur Vollstreckung von Urteilen genutzt. Das Schöffengericht tagte dort drüben“, sie zeigte unlustig dorthin, wo früher das sogenannte Grashaus stand. „Die Verurteilten wurden nach erfolgter Rechtsprechung an den Schandpfahl gebunden. Genau an dem Ort, den Pater Anselm jetzt innehat. Nichts liegt näher, als den Zusammenhang ihres Verbrechens mit denen der Vergangenheit in Verbindung zu bringen. “
„ Claudia“, rief Krüger warnend über das Headset.
„An diesem Schandpfahl möchte ich Sie leiden sehen“, fügte die Kriminalistin gehässig hinzu.
*
„Was ist los mit dir, Junge“, Pater Benedict sah ihn strafend an. Frieder rutschte unruhig auf seinem Platz herum.
„Mein Popo tut weh“, antwortete Frieder bedrückt. Darüber durfte er nicht sprechen. Aber Pater Benedict war ein Vertreter Gottes.
„Was tut dir weh?“, fragte der Mönch erblassend.
„Mein Popo.“
„Komm“, der Klosterbruder fasste ihn am Arm und zog ihn vom Sitzmöbel auf den Flur. Er schleifte ihn zu einer Kammer. Er kniete nieder und sah dem Jungen in die Augen. „Seit wann tut dein Popo weh?“, fragte er sanft.
„Schon lange“, stellte Frieder fest. Er hatte es noch nicht so mit der Zeit. „Seitdem der ‚Liebe Gott‘ den Mann geschickt hat.“
„Verdammt“, entfuhr es dem Mönch. Er war in den Sechzigern und trug sympathisch offene Züge. „Was macht der Mann mit dir?“
„Er steckt etwas Hartes in meinen Popo. Holz oder so etwas.“
Dem Pater stiegen Tränen in die Augen. „Weißt du wer er ist?“, er flüsterte.
Frieder schüttelte verwirrt den Kopf. Woher sollte er das wissen? Der ‚Liebe Gott‘ hatte doch gesagt, er solle die Augen gesenkt halten, wenn sein Engel kam.
„Warte hier“, der Priester verschwand. Kurze Zeit später kam er mit einer Tube Salbe wieder. „Tu‘ das auf deinen Popo, dann brennt es nicht mehr so.“ Er strich dem Jungen über den Kopf. „Der ‚Liebe Gott‘ hat Recht, Frieder. Du darfst mit niemandem darüber sprechen.“
„Auch nicht mit dir, Vater Benedict?“, fragte er mit weinerlicher Stimme.
„Du bist ein braver Junge. Nur wenn wir alleine sind, können wir uns darüber unterhalten. Ich beschütze dich. Jetzt komm‘. Geh‘ spielen.“
Frieder ließ einen nachdenklichen Pater Benedict zurück, dessen Gedanken arbeiteten. Er hatte es geahnt. Einige der neuen Jungen waren blass, als ob sie nicht genug Schlaf hatten oder etwas sie bedrückte. Er konnte sie nicht beschützen. Was nicht sein durfte, konnte nicht sein… das geheime Motto des Klosters. Seine Tage hier wären gezählt, falls er öffentlich eingestehen würde, dass mindesten ein Päderast im Kloster sei. Zumindest würde er den Jungen das Leben erleichtern.
Pater Benedict galt im Kloster als seltsam. Oft konnte er seine Gedanken nicht ordnen. Er vergaß viel und wechselte während eines Gesprächs unmotiviert das Thema. Er wusste darum und verhielt sich dementsprechend. Er ging Unterhaltungen aus dem Weg und betete häufig und viel.
Die Zeit schritt weiter und Frieder spürte instinktiv, dass die nächtlichen Besuche nicht richtig waren. Der Junge empfand schon längst nicht mehr den Schmerz, wie bei den ersten Vergewaltigungen. Er entwickelte Abscheu und hasste den Augenblick, wo ihn das Ungeheuer im Schlafsaal bei den Schultern fasste und bedeutete zu folgen. Immer noch wagte er nicht den Blick zu heben.
Nur einmal sah er den Mann. Das Kind konnte in Erwartung des Unheils nicht einschlafen und wälzte unruhig im Bett. Da, vor dem Hintergrund des Fensters. Kein Gesicht. Eine unförmige Gestalt mit Kapuze auf dem Kopf. Das Gewand reichte bis auf den Boden. Der Peiniger ragte riesengroß empor. Frieder schloss, in großer Furcht, schnell die Augen, bis er die Berührung spürte und aus dem Bett stieg.
Frieder stand morgens gerne früh auf. Er liebte die verschlafene Stille und selbst die harten Bänke in der Kapelle. Hier war sein Zufluchtsort, wenn ihn etwas bedrückte. Die Mutter Gottes wachte über ihn und mit dem Herrn am Kreuz hielt er stille Zwiesprache.
Der Mann suchte ihn in regelmäßigen Abständen heim. Frieder wusste genau, wann der Zeitpunkt nahte. Mit der Zeit schmerzte die Vergewaltigung nicht mehr, weil er lernte, auf der harten Stuhllehne, seinen Körper in die Stellung zu bringen, die den Schmerz erträglich machte.
Frieder wurde stiller und stiller. Niemand, außer Vater Benedict, bemerkte, wie er verkümmerte. Der Junge verstand nicht, was ihm geschah. Erst, als im Biologieunterricht die Fortpflanzung der Säugetiere, ganz nebenbei auch die der Menschen, erklärt wurde, bekam er so etwas wie eine Ahnung. Nach dem Unterricht stöberte er in der Bibliothek. Sein noch kleiner Verstand fand zwei Bücher, die ihn noch mehr verunsicherten. Sie handelten von Liebe. Liebe, die im Herzen lag, den Verstand verwirrte und Begierde hervorrief. Eine andere Liebe, als die, die er dem ‚Lieben Gott‘ entgegenbrachte.
Frieder wusste nicht, was Begierde war… nur so viel, dass er sie nicht hatte. Es sei denn… Begierde erzeugt Schmerzen.
*
Er war zehn und verunsichert, weil er nicht wusste, wie ihm geschah. Er hatte die Augen geschlossen und lag im Klostergarten hinter einem Busch. Sein geheimes Versteck. Sein Gehirn war träge und konnte sich nicht entscheiden, zu denken. Er befand sich in einem zeitlosen Zustand und spürte, wenn er die Augen schloss, die Bewegung der Erde. Ein Gefühl des langsamen Fallens.
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