Sozialneid war Jan immer fremd gewesen. Anlass dafür hätte es ohnehin nicht gegeben. Als Cheflektor eines großen Buchverlags bezog er ein ansehnliches Gehalt, Christina hatte ihren krisensicheren Beruf als Lehrerin.
„Ja, ja, ist schon gut“, murmelte er.
Kerstin Berger schien ja auch tatsächlich ganz nett zu sein und machte trotz ihrer etwas aufgesetzten Art einen ziemlich handfesten Eindruck. Und dass sie attraktiv war, ließ sich kaum bestreiten - eine gepflegte, sportlich wirkende Enddreißigerin, die sichtlich nicht nur sehr auf ihre Kleidung und den Schnitt ihres blonden, halblangen Haars achtete, sondern auch auf ihre Figur, was unter anderem mit ihrem körperbezogenen Beruf zu tun haben mochte.
Während ihm die Bilder und Szenen noch einmal durch den Kopf gingen, fühlte er sich plötzlich genervt von dem Gespräch mit Christina. So sehr er ihre Offenheit, ihr Fähigkeit, auf Menschen zuzugehen oft bewunderte – jetzt fand er ihre schon fast enthusiastische Einschätzung der neuen Nachbarn doch deutlich übertrieben.
„Wenn du nur fest genug entschlossen bist, jemanden zu mögen, findest du auch an dem größten Blödmann noch liebenswerte Seiten“, sagte er so schroff, dass sie ihn erschrocken ansah.
„Lass uns nicht streiten“, lenkte sie sofort ein. „Eines gebe ich ja auch ohne weiteres zu: Er, also der Andreas, wirkt ein bisschen anstrengend, um es mal zurückhaltend auszudrücken. Es ist bestimmt nicht leicht, es länger mit ihm auszuhalten.“
„Na, da bin ich ja doch irgendwie erleichtert, dass du das genau so wahrgenommen hast. Ich hatte schon befürchtet, ich wäre wieder mal zu kritisch.“
Christina hatte lange nachgedacht und immer wieder gezögert. Aber jetzt wusste sie, dass es nur den einen Weg gab: Sie musste Jan erzählen, was sie am Samstagabend von Kerstin erfahren hatte. Besser, sie war es, die es ihm behutsam beibrachte, als wenn er es von den Bergers erführe, was sich über kurz oder lang wohl kaum vermeiden lassen würde. Denn so wie es aussah, würden sie künftig wohl häufiger mit den Nachbarn zu tun haben. Abends, als die Kinder im Bett lagen und sie mit Jan auf dem Sofa vor dem Fernseher saß, schien Christina der Moment gekommen.
„Übrigens, du hast mit Andreas Berger etwas gemeinsam“, sagte sie und versuchte dabei, so unbefangen wie möglich zu klingen. „Kerstin hat mir nämlich erzählt, dass er ebenfalls in Altenstedt geboren und aufgewachsen ist. Er hat dort auch sein BWL-Studium absolviert.“
Jans Antwort war zunächst Schweigen. Dann drehte er sich abrupt zu ihr hin.
„Wie bitte? Und das sagst du mir erst jetzt?“
Seine Stimme klang hart, er starrte ihr mit gerunzelter Stirn ins Gesicht.
„Nun mach aber mal langsam“, sagte Christina und merkte, wie plötzlich Ärger in ihr aufwallte. „Es ist ja wohl niemandem untersagt, seine Heimatstadt zu verlassen. Ich bin nicht verantwortlich dafür, dass auch Andreas Berger diese Idee hatte und jetzt zufällig unser Nachbar ist.“
Jan schaute sie fassungslos an.
„Hast du vergessen, was ich dort erlebt habe und dass ich den Namen dieser verfluchten Stadt möglichst nie mehr erwähnt haben möchte und schon gar nicht Leute treffen will, die von dort kommen?“
Christina musste schlucken. So aufgebracht hatte sie Jan lange nicht mehr erlebt.
„Wie sollte ich das vergessen haben“, erwiderte sie, ohne einen Anflug von Sarkasmus zu verbergen. „Dieses ganze Drama hat ja schließlich lange genug auch mein Leben belastet. Trotzdem finde ich, dass du dich gerade ziemlich kindisch aufführst.“
„Kindisch aufführst?“, wiederholte Jan und sprang auf, ließ sich aber sofort wieder auf das Sofa fallen.
„Ich verstehe nicht, weshalb dich diese Information derart aus der Fassung bringt“, sagte sie tonlos.
Jan sagte nichts. Er hatte die Hände so fest ineinander geschlungen, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Auf einmal tat er Christina leid. Sie merkte, wie ihr Ärger verflog, während ihr zugleich flau wurde. Schnell nahm sie einen Schluck aus ihrem Wasserglas. Ich will diese schreckliche Geschichte nicht mehr in meinem, in unserem Leben haben, dachte sie. Und während sie ihn ratlos betrachtete, spürte sie Enttäuschung, aber auch Angst in sich aufsteigen. Sie war sich doch so sicher gewesen, dass dieses Kapitel abgeschlossen war. Jan hatte doch alles genau so gewollt wie sie – die Heirat, die Kinder, den Hauskauf. Sie hatten doch ihr Leben, ihre Zukunft gemeinsam geplant.
„Jan, nun komm doch mal wieder zu dir“, sagte sie leise und legte ihm vorsichtig die Hand auf die Schulter. Er machte eine ungeduldige Bewegung, so als wolle er sie abschütteln. Erneut empfand Christina Ärger, ja Wut. Jetzt war sie es, die vom Sofa aufsprang.
„Du gefällst dir wohl in der Rolle des ach so sensiblen, vom Schicksal schwer geprüften Menschen! Komm, mach die Augen auf, guck mich an, schau dir das Leben an! Bedeutet dir das alles gar nichts? Ich war so fest davon überzeugt, habe daran geglaubt, dass all das, was ich für ein großes Glück halte, auf sehr festen Füßen steht. Es kann doch nicht sein, und ich will und kann das nicht akzeptieren, dass du dich wegen solch einer im Grunde banalen Mitteilung wieder in diese Geschichte hineinsteigerst. Du hast ein neues Leben, ein gutes und erfülltes. Ich war immer überzeugt – und die letzten Jahre haben mich nicht daran zweifeln lassen -, dass du endlich einen Schlussstrich gezogen hast.“
Sie merkte, wie sie sich immer mehr in Rage redete, während Jan immer noch schweigend da saß, die Arme vor der Brust verschränkt.
„Leide nur weiter, das kannst du ja so gut“, stieß sie hervor.
Dann verließ sie das Zimmer, putzte sich im Bad die Zähne und ging ins Schlafzimmer, wo sie sich in ihr Bett fallen ließ. Irgendwann in der Nacht bemerkte sie, wie Jan aufstand. Sie lauschte angestrengt und hörte durch die angelehnte Tür, dass er in die Küche ging und den Kühlschrank öffnete. Sie wusste, er würde nicht zurück ins Bett kommen. Verdammter Mist, dachte sie und warf sich unwillig auf die andere Seite.
Am nächsten Morgen versuchte sie, so zu sein wie immer. Die Kinder schienen nichts zu merken, aber ihr fiel auf, dass Jan wortkarg und fahrig war. Auch sie sprach nicht viel. Sie tat, was sie jeden Morgen tat, und als sie mit den Kindern das Haus verließ, saß er noch immer am Frühstückstisch.
Was sollte das nur werden? Er würde es womöglich fertigbringen, sich in alles Mögliche hineinzusteigern und in Andreas Berger weiß Gott wen sehen, zumal er ihn ohnehin nicht besonders gut leiden konnte.
Am Tag nach dem Streit mit Christina hatte Jan Mühe, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Immer wieder schob sich ein bestimmtes Bild vor sein inneres Auge, beklemmend und lähmend zugleich. Da war dieses milchig-weiße, formlose Gebilde, ähnlich einem Nebel oder einer Wolke, und in der Mitte befand sich ein großer schwarzer Punkt.
Einer der Therapeuten hatte damals von einem „Loch in der Seele“ gesprochen, das ihm zugefügt worden sei. Dieses lasse sich mittels seelenärztlicher Eingriffe zwar schließen, aber er müsse damit rechnen, dass die Narbe immer noch mal wieder schmerzen könne. Das Sprichwort, demzufolge die Zeit alle Wunden heilt, sei im Prinzip gewiss zutreffend, doch über die Narben sei damit ja schließlich nichts gesagt. Für Jan hatte das einleuchtend geklungen, und die Metapher vom Loch in der Seele fand er durchaus passend, auch wenn damit nicht unbedingt die Plötzlichkeit beschrieben war, mit der er diese Wunde erlitten hatte.
Von einem Tag auf den anderen einen geliebten Menschen zu verlieren, das bedeutete gewiss immer eine Tortur, einen tragischen Bruch alles Gewohnten. Aber so, wie die Dinge in Jans Fall lagen, war es noch weit mehr gewesen – ein traumatischer Schock, der ihn bis ins tiefste Innere erschüttert hatte. Denn es ging ja nicht allein um den Verlust, sondern fast mehr noch um die Umstände, unter denen er ihn erlitten hatte und die so grausam und quälend gewesen waren. Der Tod war schrecklich genug, zumal wenn er ein so junges Leben beendete. Doch mit dem Fortschreiten der Zeit ließ sich vermutlich irgendwann damit abschließen, sofern der Tod durch einen Unfall oder eine Krankheit eingetreten war, hatte Jan oft gedacht. Ihm war diese Möglichkeit verwehrt geblieben, mit dem Schicksal seinen Frieden zu machen, eben weil sich dieser Tod nicht irgendwelchen anonymen Mächten anlasten ließ, sondern es jemanden gab, der ihn bewusst herbeigeführt hatte.
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