Als er Altenstedt damals verlassen hatte, war das wie eine Flucht gewesen und er war seither nie mehr dorthin zurückgekehrt. Der Name der Stadt war für ihn zum Synonym für die dunkelsten Stunden und Tage seines Lebens geworden.
Auf dem Weg zur Haustür stellte er fest, dass er seinen Schlüssel nicht dabei hatte, was bisweilen vorkam. Bevor er anklingeln konnte, wurde die Tür schon aufgerissen und Paul und Marie kamen ihm entgegengestürmt.
„Papi, Papi, schön, dass du endlich da bist“, riefen beide fast gleichzeitig.
„Ja, ich freue mich auch, ihr beiden Wilden.“
„Wir sind gar nicht wild, sondern ganz brav“, widersprach ihm Paul. „Wir haben nämlich ganz alleine freiwillig unsere Sachen aufgeräumt.“
„Na ja, das ist dann vielleicht doch ein bisschen übertrieben“, korrigierte ihn lächelnd seine Mutter, die aus der Küche in die Diele getreten war. „Ganz so freiwillig war das nun auch wieder nicht.“
Während Jan die Tür hinter sich schloss und seine Tasche abstellte, kam Christina näher, um ihn mit einer kurzen Umarmung und einem Kuss zu begrüßen. Sie trug Shorts und ein T-Shirt und er spürte für einen Moment die Wärme ihres schlanken, hochgewachsenen Körpers, der nur wenig kleiner war als sein eigener. Immer noch wirkte sie sehr jung mit ihrem feingeschnittenen Gesicht, dem kurzen dunklen Haar, mit ihrer lebhaften, offenen Art - jünger jedenfalls, als es die fünf Jahre Altersunterschied vermuten ließen, die er ihr mit seinen knapp vierundvierzig voraus war. Immer noch kam es vor, dass sich beim Anblick Christinas Anblick ein anderes Bild vor sein inneres Auge geschoben und er gewisse Vergleiche angestellte, obschon er es eigentlich gar nicht wollte.
„Hast du an den Wein für die Bergers gedacht?“, fragte sie.
„Welchen Wein? Ach so, ja. Tut mir leid, den habe ich vergessen.“
Christina schaute in den Kühlschrank und überlegte kurz: Käse, Schinken, Tomaten, Radieschen? Am besten alles, entschied sie. Das Abendessen würde heute eher bescheiden ausfallen. Jan hatte mit einem Kollegen zu Mittag gegessen und für sie und die Kinder war noch ein Rest Spaghetti Bolognese vom Vortag übrig gewesen. Sie warf einen Blick durchs Küchenfenster. Jan war schon da, er schob sein Rad Richtung Garage. Wie gut er aussah, dachte sie, so jung und lässig. Und in Jeans, hellblauem Hemd und dunkelblauem Jackett sah er ganz besonders gut aus. So war er auch bei ihrer allerersten Begegnung gekleidet gewesen, als sie sich sofort in ihn verliebt hatte.
Heute Abend erschien ihr das Leben leicht und unbeschwert. Alles war genau so, wie sie es sich immer gewünscht hatte. Und wenn auch nach wie vor, in den tiefsten Tiefen ihres Bewusstseins, noch ein winziger Rest von Unsicherheit und Vorsicht lauerte, glaubte sie doch sicher sein zu können, dass sie eine fröhliche, glückliche Familie bleiben würden, auch wenn es noch vorkam, wie kürzlich wieder, dass er in der Nacht aus dem Schlaf aufschreckte und sich kurz, offenkundig verwirrt, in seinem Bett aufsetzte. Er hatte vor Jahren Schreckliches erlebt. Und wahrscheinlich würde es infolge dieses Traumas immer mal wieder kleine Rückfälle geben. Damit mussten sie leben. Doch sie war sich sicher, dass Jan seine Dämonen, wie sie es nannte, im Grunde besiegt hatte.
Er war ein liebevoller, verantwortungsbewusster Vater. Seine Arbeit machte ihm Freude und wurde gut bezahlt. Und trotz zahlreicher Überstunden und anstrengender Phasen fuhr er doch jeden Morgen gern in sein Verlagsbüro. Auch nach zehn gemeinsamen Jahren war Christina noch immer verliebt in ihn. Und umgekehrt, davon war sie überzeugt, verhielt es sich nicht anders.
Damals, als sie an einem Freitagabend so ungewollt tapsig in sein Leben gestolpert war, hatten Jahre großer Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit hinter ihm gelegen. Und noch immer hatte es ihn viel Kraft gekostet, Beruf, Alltag und soziale Kontakte zu meistern. Sie hatte ihn als einen Menschen kennengelernt, der sehr zurückgezogen lebte und am liebsten für sich blieb. Er war nicht sonderlich gesprächig, private Fragen und Bekundungen von Interesse an seiner Person wusste er rasch abzublocken.
Obwohl sich Christina sofort stark zu ihm hingezogen gefühlt hatte, war sie einige Male kurz davor gewesen aufzugeben. Es waren anstrengende Monate gewesen, ein einziges Gefühlschaos, eine regelrechte Berg- und Talfahrt zwischen Hoffnung, Euphorie, Frustration und Zurückweisung. Wenn sie glaubte, einen Schritt vorangekommen zu sein, stieß er sie zwei Schritte zurück. Doch obschon sie lange Zeit nicht ahnte, was mit ihm los war und was ihn so hatte werden lassen, wie er damals war, blieb sie geduldig und verständnisvoll. Sie hatte bis dahin gar nicht gewusst, wie leidensfähig sie sein konnte. Vielleicht, weil sie gespürt hatte, dass er nicht einfach nur ein merkwürdiger Kauz war, sondern dass dieser Mann etwas Schweres, noch nicht Verarbeitetes mit sich herumschleppte. Und tatsächlich, nach und nach bröckelte die Mauer um ihn herum, er gewährte ihr Zugang, begann zu erzählen. Bis sie schließlich alles wusste.
Dabei war der erste Abend ihres Kennenlernens nicht ohne Komik verlaufen. Es gab eine Lesung in einer Buchhandlung, die Christina oft und gern aufsuchte. Von dem Autor, der sein neues Buch vorstellte, hatte sie schon einiges gelesen. Sie saß in der dritten Stuhlreihe, fast in der Mitte, das Begrüßungsglas Prosecco in der Hand, und betrachtete entspannt das ankommende Publikum. Einige der Leute kannte sie vom Sehen, man nickte einander freundlich zu.
Und dann kam Jan, dieser großgewachsene, etwas schlaksig wirkende blonde Mann, bei dessen Anblick Christina unwillkürlich für einen Moment den Atem anhielt. Er trug Jeans, ein hellblaues Hemd und ein dunkelblaues Jackett. Offensichtlich wurde er erwartet. Die Buchhändlerin und der bereits anwesende Schriftsteller begrüßten ihn freundschaftlich per Handschlag.
Christina saß jetzt aufrecht. Wie gebannt betrachtete sie die Szene, wobei ihr Blick immer wieder auf dem großen blonden Mann haften blieb. Genau mein Typ, schoss es ihr durch den Kopf. Und dann konnte sie nur noch eines denken – dass sie ihn unbedingt kennenlernen musste. Am besten würde sie versuchen, beim anschließenden Umtrunk irgendwie mit ihm ins Gespräch zu kommen.
Wenn sie etwas wirklich erreichen wollte, konnte Christina äußerst zielstrebig sein, nicht nur in Alltagssituationen, sondern auch in Bezug auf Männer. Das lag sicher mit darin begründet, dass sie Einzelkind war, umsorgt von liebevollen Eltern, die sie gefördert und in ihrem Selbstbewusstsein bestärkt hatten. Sie hatte einige Beziehungen hinter sich, aber letztlich war es dann doch nie der Richtige gewesen, zumindest nicht im Hinblick auf das, was sie für ihre Zukunft plante, nämlich zu heiraten und Kinder zu haben. Im Moment war sie Single und war mit ihrem Leben ganz zufrieden, zumal sie sich in ihrem Beruf als Grundschullehrerin wohl fühlte. Torschlusspanik hatte sie mit ihren neunundzwanzig Jahren jedenfalls noch nicht verspürt. Und das Gerede von der biologischen Uhr, die angeblich irgendwann zu ticken begann, fand sie einstweilen nur lächerlich. Alles würde sich fügen.
Sie wusste, dass sie gut aussah und bei den Männern gut ankam. Das Gesamtpaket stimmte, wie man so sagte und ihr schon oft genug bestätigt worden war. Sie galt als intelligent und vielseitig interessiert, dabei ziemlich unkompliziert, wusste sich schick zu kleiden und achtete auf ihre Figur. Zweimal die Woche ging sie ins Fitnessstudio, wenn auch ohne allzu große Ambitionen. Sie war wirtschaftlich unabhängig, hatte eine schöne Wohnung und viele Freunde und Bekannte. Aber sie konnte auch gut allein sein und ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgehen, dem Lesen.
Jan saß in der ersten Reihe, ganz außen, sodass Christina schräg über die Köpfe der Vorderleute hinweg einen guten Blick auf ihn hatte. Er saß ein bisschen ausgestreckt, die langen Beine nach vorne geschoben, so als wäre der Stuhl etwas zu klein oder unbequem. Seine Arme hatte er irgendwie vor dem Oberkörper zusammengelegt. Christina konnte den Blick nicht von ihm wenden. Sie registrierte die etwas zu langen Haare, die über den Jackettkragen ragten, die gut geformte Nase, den leicht gebräunten Teint. Alles, was sie sah, gefiel ihr ausnehmend gut. Christina spürte deutlich, dass sie bereit war für eine neue Liebe. Und genau dieser Mann sollte es sein.
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