„Was denn – ich dachte, so was sei im Sozialismus aus der Mode gekommen?“
Eine der beiden, sie war mager und rothaarig, starrte dümmlich über seinen Kopf hinweg.
„Gewöhnlich schon.“
„Warum hast du mich hierher gebracht?“
„Einfach, um dir einen Gefallen zu tun.“
„Mit diesen Mädchen?“
Sie blickte weg – wandte ihm aber wieder das Gesicht zu, als er schwieg. „Du sollst nicht glauben, es sei schwierig, hier Kontakte zu knüpfen, wenn dir danach ist.“
„Wenn mir danach ist?“ Er griff hart nach ihrem Arm. „Wer hat dich dazu beauftragt? Es war Felder, nicht wahr?“
Sie zuckte die Achseln, dann nickte sie.
„Sehr unklug von ihm.“
„Man glaubt, du seiest vom Westen her gewisse Verhältnisse gewohnt“, sagte sie unwillig. „Felder wollte nur, dass du dich wohl fühlst. Nichts weiter.“
Es war Papsts Wunsch, einige soziale Einrichtungen zu besuchen, als man ihn fragte, wofür er sich im anderen Deutschland besonders interessiere, und so wurde er von Julia nach Telefonaten Felders an ihren freien Vormittagen in eine polytechnische Schule, einen kleinen Vortrag über das Bildungssystem und eine Kinderkrippe geführt.
Am meisten beeindruckte ihn die liebevolle Art, mit der kleine Kinder untergebracht waren. Sie lebten dort ganztags in überschaubaren Gruppen, von jeweils einer Erzieherin betreut. Um die Mittagszeit wurden Klappbettchen in den Spielraum gestellt, und da es „Schlafstempelchen“ in ein Heft gab, auf die sie sehr versessen waren, tobte keines der Kleinen während der Mittagsruhe herum, sondern alle kniffen fest die Augen zu.
Den Älteren merkte er ein Gefühl gemeinsamer Anstrengung an – mochten sie auch für solche Besichtigungen ausgewählt sein. Die Stimmung des Aufbruchs war vielerorts verbreitet.
Es überraschte ihn ein wenig, endlich zu finden, was er sich vorgestellt hatte …
Einige traten ihm sogar mit ungewöhnlicher Herzlichkeit entgegen.
Dass jemand aus dem Westen kam, schmeichelte vielleicht ihrem Selbstwertgefühl. Gewiss würde es wie überall auch hier Misstrauen, Missgunst, Arbeitsunlust und Desinteresse geben. Ihre Sorgen um die wechselseitige Aufrüstung und die Angst vor dem Gegner klangen aber auf dieser Seite genauso glaubwürdig wie drüben.
Ehe er zur Bibliothek fuhr, stellte er für Heddas Kinder ein kleines Paket aus thüringischem Holzspielzeug zusammen; Wägelchen und Reiter, die noch nach frischer Farbe und Leim rochen. Er packte es in einen vorbereiteten, adressierten Karton und gab es gleich zur Post. Er legte einige Zeilen dazu:
„ Ankunft wie erwartet. Keine besonderen Vorkommnisse. Wolfhard.“
Sicher interessierte es sie wenig, oh es besondere Vorkommnisse gab oder was er trieb, und sie würde den Zettel achtlos wegwerfen. Trotzdem fühlte er sich zu einem Lebenszeichen verpflichtet.
Danach aß er in einem kleinen Kellerlokal der Altstadt zu Abend.
Am Vortage hatte er, als er mit der Gabel auf ein Salatblatt schlug, aus der kalten Platte, die man frühen Abendbrotgästen im Hotel servierte, einen Kakerlak laufen sehen – und danach noch einen, der eilig die waagerechte Leiste einer spanischen Wand entlang rannte.
Er erinnerte sich, in der Hotelhalle jemanden seinen Nachbarn fragen gehört zu haben, ob es auf seinem Zimmer auch nach Insektenvertilgungsmitteln rieche. Die Antwort war, dass der Kammerjäger im Haus unterwegs sei.
In einem westlichen Hotel hätte er wegen dieses Vorfalls sicher sofort den Küchenchef gerufen; doch hier war es ihm peinlich, wenn sich der Mann vor jemandem aus dem Westen eine Blöße gab. Immerhin verdarb es ihm so weit den Appetit, dass er auf eigene Kosten in einem anderen Restaurant aß.
Das Essen war gut und preiswert; von der Schwierigkeit, einen freien Tisch zu finden und den langen Wartezeiten abgesehen. Selbst die Rechnung wurde zu einem bislang unbekannten Hindernis auf dem Wege ins Freie. Es schien, als sei das Kassieren eine besonders lästige Arbeit. Ein Trinkgeld nahm man aber gerne an. In Zukunft würde er einige Arbeitspapiere einstecken, damit die Zeit nicht so lang wurde.
Felder hatte ihm einen Ausweis beschafft, der ihn zur Ausleihe sämtlicher Werke aus dem Magazin berechtigte, auch jener, für die man gewöhnlich eine Sondergenehmigung benötigte.
„Es wird Ihre Arbeit erleichtern, aber machen Sie um Gottes willen keine Reklame damit. Und lassen sie ihn oder die Bücher nicht unbeobachtet auf den Tischen liegen“, hatte er ihm ans Herz gelegt.
Als Papst die Stufen des Bibliothekseingangs nahm, warf er einen spöttischen Blick zu den goldenen Lettern über dem Portal hinauf, denn sie lauteten:
Freie Statt
Für freies Wort
Freier Forschung
Sichrer Port
Reiner Wahrheit
Schutz und Hort
Es würde wohl noch eine Weile dauern, ehe sich dieser hohe Anspruch uneingeschränkt erfüllen ließ. Aber momentan brannten ihm solche Ungereimtheiten weniger auf den Nägel als früher, denn das Neue Deutschland hatte in einem Leitartikel „weitere Freiheiten beim Bezug ausländischer Buch- und Zeitschriftenpublikationen“ angekündigt.
Schon das Eingeständnis, dass es diese Freiheiten bisher nicht gegeben hatte, musste als eine kleine Sensation bewertet werden. Es bestätigte nur den erstaunlichen Wandel in der Politik der letzten Monate.
An der Pforte hatte er wie gewöhnlich seinen Leseausweis vorzuzeigen. Der ältere der beiden Hausmeister kannte ihn bereits und verzichtete jetzt manchmal darauf. Ein kleines Problem gab es im Garderobenraum, da die einzige Bedienung, eine resolute, magere Frau, den Leserandrang kaum bewältigen konnte und schimpfend verlangte, man solle nicht hintereinander stehen, sondern sich an der Theke verteilen.
Dann befahl sie militärisch barsch jedem „Abholen“, seine Kleidermarke vor sich auf den Tisch zu legen.
Sie sammelte sie ein, ordnete sie nach der Zahlenfolge und brachte so mit wenigen Schritten einen Arm voller Kleider, aus denen sich jeder sein Teil herausziehen musste ...
Es war immer das gleiche entwürdigende Spiel; man ertrug ihre Unhöflichkeiten lächelnd und ohne Protest.
Als Papst seine Unterlagen von der Magazinausgabe geholt und sich an seinen Platz nahe der Holztreppe gesetzt hatte, den er seit zwei Tagen belegte, entdeckte er plötzlich einige Tischreihen entfernt eine bekannte Gestalt.
Kein Zweifel ... schließlich war er wochenlang Nacht für Nacht mit ihm unterwegs gewesen. Er beugte sich vor und fuhr sich ungläubig mit der Hand über die Augen – dieselbe farblose Haut eines Albinos, die wimpernlosen Augen, das strohblonde, glatt zurückgekämmte Haar – Alex Margott!
Der andere saß in der entgegengesetzten Saalhälfte und kehrte ihm das Gesicht zu. Er las in einem Buch. Es sah so aus, als habe er Papst noch nicht bemerkt. Ein Stapel anderer Bücher und Unterlagen, in die er ab und zu etwas notierte, lag vor ihm.
Papst erhob sich ungläubig; er ging eilig durch den Mittelgang auf ihn zu. Seine schnellen, lauten Schritte erregten Aufmerksamkeit. Einige Lesende hoben missbilligend die Köpfe, und er verlangsamte seinen Gang.
Als er nur noch wenige Meter von Margotts Tisch entfernt war, blieb er stehen, denn der andere blickte langsam auf. Papst wollte etwas sagen, doch Margotts ausdrucksloser Blick glitt über ihn hinweg, streifte die regungslose blau gekleidete Frauengestalt am Aufsichtspult – und kehrte zu seinen Unterlagen zurück.
„Hallo.“
Der andere schien nichts gehört zu haben. Er trug denselben ungepflegten, an den Taschen und Umschlägen speckig glänzenden Anzug, den sein Bruder bei der Beerdigung getragen hatte.
Doch sein Gesicht wirkte um einige Jahre jünger … wenn Papst auch, je länger er es im Lichtkreis der rötlichen Leuchtstoffröhre betrachtete, Zweifel kamen. Immerhin war es nicht ganz so jung wie das seines verstorbenen Freundes – als sei es künstlich gealtert.
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