Aus der Brust des jungen Mädchens hing traurig der dicke Katheder heraus, den ich in die Vena Cava Superior gesteckt hatte.
Der hohe Blutverlust der letzten Tage war für den zierlichen Körper des Mädchens offensichtlich zu hoch gewesen. Sie hatte den Verlust des Leben sichernden Herzsaftes nicht schnell genug ausgleichen können.
In der Regel trank ich so, dass die Opfer einige Tage durchhielten. Der Flüssigkeitsverlust wurde dabei durch Kochsalzlösung über die Armvenen ausgeglichen. Leider litt der Geschmack auch unter der Verdünnung. Hunger und die Anstrengung der Blutbildung zehrten die dem Tode geweihten jedoch am Ende immer aus. Zuweilen verlängerte ich ihre Pein, indem ich sie durch einige Tropfen aus meinen Adern wieder stärkte.
Nun gut, der Leichnam musste jetzt entsorgt werden. Ich legte das Mädchen auf eine ausreichend große Plastikunterlage und holte ein geeignetes Messer herbei. Das Vampirleben ist nicht so romantisch wie die gewöhnlichen Menschen denken. Sie träumen zwar gern vom ewigen Leben, übersehen dabei jedoch das Morden und die widerliche Drecksarbeit, welche in der Zwischenzeit zu leisten ist. War das Selbstmitleid? Ich lachte zynisch auf.
Wenjera und Aurora folgten mir in aufgeregter Vorfreude. Sie wussten aus Erfahrung, was jetzt kam. Aurora zerrte bereits vergnügt am heraushängenden Katheder. Ihre Spielgefährtin begann derweil schon einmal ein Ohr anzuknabbern. Ich riss dieses mit einem kräftigen Ruck ab und warf es in die Luft.
„Spring!“, befahl ich kurz.
Geschickt tat sie es. Noch bevor der Leckerbissen zu Boden fiel, packte sie zu und verzog sich mit dem Schatz in eine Ecke.
Da ihre Schwester nun traurig schaute, tröstete ich sie mit dem anderen. Beide machten sich vergnüglich an dem halbfrischen Knabberspaß zu schaffen.
Das Mädchen entsorgte ich gewohnt routiniert. Ich mochte diesen unangenehmen Teil nicht, aber er gehörte wie Abwasch nach einem ausgiebigen Essen nun einmal dazu.
Der für diesen Zweck eigens abgedichtete übergroße Koffer, Zerkleinerungswerkzeuge, mein Auto und ein etwa eine halbe Stunde entfernter Futterplatz für Wildschweine leisteten mir dabei die notwendige Hilfe. Wölfe und Hyänen gab es leider nicht in den Wäldern der Umgebung. Berlin war nicht Russland.
Zusammen mit einigen Rehen lebten die nützlichen Allesfresser in einem größeren Gatter und wurden dort als Wildschlachtvieh gehalten. Ich hatte mir inzwischen einen Nachschlüssel für das Eingangstor nachgemacht. Da die Einzäunung mitten im Wald lag, störte mich um diese späte Stunde niemand.
Die schmutzigen Helfer waren zumeist sehr hungrig und bereits an meine Fütterungen mit dem menschlichen Abfall gewohnt. Wie zutreffend doch dieses Wortspiel war.
Die wiederkehrende Abwechslung im Speiseplan gefiel den Schweinen offensichtlich, da sie mir schon aus der Ferne entgegen grunzten und aufgeregt zusammenliefen.
„Na, freut ihr euch schon?“, begrüßte ich meine hungrigen Helfer und verteilte das erste blutige Futter. Sofort stritten sie wütend um die besten Stücke. Aufgeregt leckten sich die Tiere ihre blutigen Schnauzen gegenseitig ab und äugten nach weiteren Spezialitäten. Sie waren beim Fressen sehr gründlich und leisteten mit ihren kräftigen Kiefern die notwendige Arbeit.
Zufrieden ging ich davon. Im Koffer klapperten die Werkzeuge. Wer würde das nächste Futter sein? Diesmal sollte es ein männlicher Bösewicht sein. Gerechtigkeit musste herrschen. Man redete doch heute in den Journalen und der Gesellschaft so viel von Geschlechtergerechtigkeit und gleichen Chancen.
Berlin war eine sehr bunte und lebendige Stadt, welche ganz meinem gegenwärtigen Geschmack entsprach. In den letzten Jahren war viel gebaut worden. Das Zentrum verströmte trotz seiner großflächigen Zergliederung inzwischen durch seine Prachtbauten ein weltmännisch offenes Flair. Gigantische Investitionen waren nach Berlin Mitte geflossen und bereicherten die zwielichtige Baulobby. Das neueste Milliardengrab war der neue Airport. Seine kostspielige Eröffnung verschob sich Jahr um Jahr.
Inzwischen lebte ich seit mehr als einem Jahr in dieser quirligen Metropole und arbeitete verborgen für die international renommierte Detektei Barnes & Gobler. Für mich war das übliche Durcheinander, die nur schwer zu durchschauenden Strukturen und das Gemisch der Kulturen eine gute Basis, um nicht aufzufallen.
Deutschland war noch immer eines der modernsten und freiesten Länder in der Welt. Daran hatte sich seit dem letzten Besuch nichts geändert.
Schon vor einhundert Jahren, als ich zusammen mit unserer Familie erstmals hierher kam, erschien mir alles außergewöhnlich technisiert und ordentlich. Russland war da ganz anders und bildete geradezu den Gegensatz ab.
Inzwischen gab es jedoch auffällig viele Arme und andererseits eine große Schar wohlhabender Menschen. Gewalt und Verbrechen hatten deutlich zugenommen. Einheimische und Zugewanderte standen sich immer kritischer gegenüber, auch wenn nach außen von den neoliberalen Eliten das Gegenteil behauptet wurde. Die gewöhnlichen Menschen sahen immer mehr das Trennende und übersahen das Verbindende. Die Berliner wirkten unzufriedener. Alle warteten auf Lösungen und wussten nicht auf welche. Das Land näherte sich unweigerlich amerikanischen Verhältnissen an und würde in fünfzig Jahren ein ganz anderes sein. Den Deutschen wurde eingeredet, dass sie an allem die Schuld trügen und viele streuten sich einsichtswillig die Asche auf ihre Häupter. Letztlich mussten sie für alles bezahlen und nochmals bezahlen. Deswegen blieb der Großteil der Bevölkerung arm oder verarmte. Doch sie waren weniger mehr oder weniger Schuld als andere Völker. Politiker treiben aus eigenen Interessen Menschen in die Kriege.
Ähnlich schleichend hatte der Wandel bei uns begonnen. Unsere gebildeten Demokraten zeigten zu Beginn Verständnis für diejenigen, die unser System ablehnten. Diese hatten das jedoch in ihr Kalkül einbezogen.
Das Erleben solcher Wandlungen sind ein Bestandteil des immer größer werdenden Schmerzes der Einsamkeit, den ein Vampir spürt. Ein sehr langes oder gar unendliches Leben hat mehr Probleme, als man gemeinhin glaubt, da sich alles unablässig verändert und die Bekannten altern und sterblich sind.
Mama war sogar auf deutschem Boden geboren worden und wir hatten vor dem ersten Weltkrieg unsere zahlreichen Verwandten besucht. Unsere Mutter bestand akribisch darauf, dass wir Kinder alle Deutsch lernten. Der verbliebene Akzent verdeutlichte aber, dass ich im Kern immer noch Russin war. Mein Drang nach Ordnung und Planung musste jedoch vom deutschen Teil in mir stammen.
Es gab im heutigen Berlin zwar auch viele Menschen guter Gesinnung, aber überall roch ich Hass, Gier und Bosheit. Selbstsucht und Egoismus uferten immer weiter aus und hatten die Menschen verdorben. Somit gab es genug Abwechslung, böses Blut und Arbeit für mich. Der kleine Aderlass blieb in der pulsierenden Millionenschar ohne Bedeutung. Ich fiel nicht auf und tat alles, damit es so blieb.
Die Detektei war mit meiner bisherigen Arbeit zufrieden und ließ mich deshalb ausschließlich sehr spezielle Aufträge verrichten. Begann erst einmal die Jagd, waren ein Ergebnis und mein Erfolg nur eine Frage der Zeit. Da ich alles ohne die heute übliche Hektik leistete und auch nicht durch eine hohe Zahl von gelösten Fällen Aufsehen erregen wollte, lehnte ich Aufträge ab, die nicht in dieses Schema passten.
Ich befand mich gerade jagend im frühnächtlichen Nikolaiviertel, das im Moment bei einer bestimmten, vergnügungssüchtigen Gesellschaftsschicht angesagt war. Einige Aufsehen erregende Eröffnungen mit entsprechender medialer Bewerbung hatten dazu beigetragen.
Man traf hier sowohl Politiker, Ärzte, Anwälte, Zuhälter, Bankiers, Vorstände und diverse verborgene Kriminelle anderer Couleur als auch deren jeweilige Begleitung. Viele gut aussehende Frauen und um Männer buhlende Jungen versuchten dies für ihre eigenen Zwecke zu nutzen. Mein letztes Opfer, das Mädchen, hatte ich aus einem anderen Stadtteil erwählt. Man hatte ihr Verschwinden bisher nicht einmal bemerkt oder glaubte, sie reise irgendwo in der Welt herum. Eine kurze Mitteilung auf dem Anrufbeantworter ihres Komplizen ließ diesen Eindruck entstehen. Das war der Grund, warum ich ihn verschonte. Er diente vorerst als Alibi.
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