„Danke.“ Liam keucht schwer und sieht zu mir mit weit aufgerissenen Augen auf.
„Kein Problem.“ Ich halte ihm meine Hand hin und ziehe ihn schnell auf die Beine. „Wir sollten echt von hier verschwinden.“
„Ja.“ Er wirkt noch immer geschockt, doch er ist schon wieder so weit bei sich, dass er seine Glock einsammelt und weiter auf den Gulli zugeht. „Darf ich mir den mal leihen?“, fragt er und deutet auf meinen Hammer.
„Sei aber vorsichtig, mit dem töte ich am liebsten.“
Er lächelt halbherzig über meinen Scherz, dann schiebt er die Finne in eines der Löcher und hebt den Deckel an. Er zieht ihn wenige Meter weit, dann reicht er mir den Hammer zurück. „Bereit?“, fragt er und sieht mich prüfend an.
Ich blicke in die Dunkelheit unter uns. „Kann’s gar nicht erwarten.“
„Sehr schön.“ Er lässt einen der Träger von seiner Schulter gleiten und zieht den Rucksack nach vorne. Kurz sucht er in einem vorderen Reißverschlussfach, dann holt er zwei Taschenlampen zum Vorschein. Er reicht mir eine. „Lass uns gehen.“ Er zieht seinen Rucksack fest und klemmt sich die Gitarre wieder unter den Arm. Dann steigt er mir voran die Leiter hinab.
Ein leises Seufzen entfährt mir, als ich ihm hinterher sehe. Mein Herzschlag beschleunigt sich etwas, ich muss mir eingestehen, dass ich Angst habe. Dann schalte ich meine Taschenlampe ein und nehme sie fest zwischen die Zähne, während ich meine Füße auf die Sprossen setze. Ich atme ein letztes Mal tief die frische Luft ein, ehe ich Liam hinab folge. „Oh mein Gott!“, stoße ich hervor, nachdem ich die Lampe aus meinem Mund genommen habe. Mit der anderen Hand halte ich mir fest die Nase zu.
„Was hast du erwartet?“ Sein Grinsen wirkt nicht ganz so schelmisch wie zuvor. „Da wird uns dein Deo auch nicht weiterhelfen, was?“
„Kein Deo dieser Welt könnte das bekämpfen.“
Er lacht, während er auf seinen Kompass leuchtet. „Wir müssen hier lang.“ Er deutet nach rechts. „Du hast keine Angst vor Ratten, oder?“
„Ich habe Angst vor übel riechenden Kanalisationen“, erwidere ich dumpf und nehme die Hand von der Nase.
„Wird Zeit, die Phobie zu bekämpfen.“
„Juhu.“
Er grinst, natürlich tut er es. „Lass uns gehen.“
Wir waten langsam durch das knöchelhohe Wasser und ich versuche mir nicht vorzustellen, was da alles um meine Füße herum schwimmt. Zum ersten Mal, seit das alles begonnen hat, bin ich froh, dass ich meine hohen Lederboots angezogen habe und mir das Brackwasser so nicht in die Schuhe laufen kann. Der Schein unserer Taschenlampen durchschneidet die Schwärze und tatsächlich sehe ich hier und da eine Ratte entlang laufen. Doch nach allem, was ich in den letzten Stunden gesehen habe, weiß ich, dass eine Ratte das letzte ist, wovor ich mich fürchten muss.
„Also“, setze ich an, nachdem wir eine ganze Weile schweigend nebeneinander hergelaufen sind. „Du warst bei der Army?“
Er sieht mich überrascht an. „Woher weißt du das?“
„Man muss kein Genie sein, um das rauszukriegen. Du kannst mit ´ner Glock umgehen, hast noch Ansätze dieses typischen Haarschnitts, weißt, wie man ein Auto kurzschließt und der tarnfarbende Militärrucksack erschien mir auch sehr verdächtig.“
„Ja, der Rucksack macht’s“, stimmt er mir zu und ich lache. Dann seufzt er. „Ja, ich war im Fort Meade in Maryland stationiert. Ich hatte mich für fünf Jahre verpflichtet und mein Vertrag lief vor einem Monat aus.“ Er lacht auf. „Kurz bevor das alles hier passiert ist, das nennt man wohl Glück im Unglück, was?“
„Und deswegen das Vorstellungsgespräch hier? Von dem du vorhin erzählt hast?“
„Naja.“ Tatsächlich wird Liam leicht rot. „Ich wollte nicht mein Leben lang bei der Army bleiben, ich habe es mehr meinem Vater zu liebe getan. Ich dachte … naja.“ Er hebt seine Gitarre leicht an. „Ich hatte ein … Vorsingen.“
Überrascht sehe ich ihn an. „Cool“, sage ich dann und lächle breit, als er mich ungläubig anblickt. „Nein, wirklich, ich meine es ernst. Ich singe auch gerne, allerdings nur unter der Dusche. Und irgendwie auch sehr falsch und sehr schief.“
Liam fängt an zu lachen. „Man, Blondie, in deiner Nähe kann man sich gar nicht unwohl fühlen, was?“
Ich nestele an meinem Gürtel herum. „Weiß nicht, ich glaube, dass ich oft nerve.“
„Also mich nicht.“ Er grinst. „Was ist denn deine Geschichte?“
„Hm?“ Gerade bin ich mit dem Strahl meiner Taschenlampe einer weiteren Ratte gefolgt.
„Du kommst nicht aus den USA, oder? Du hast einen leichten Akzent. Deutsch?“
Tatsächlich bin ich beeindruckt. „Nicht schlecht. Ich bin in Hamburg aufgewachsen.“
„Und dann Wahl-Amerikanerin geworden?“
„Nicht ganz.“ Kurz bin ich stumm, dann beschließe ich, dass ich Liam die Wahrheit erzählen kann. Ich habe ihm vertraut, als es um mein Leben ging. Dann sollte ich ihm auch meine Vergangenheit anvertrauen können. „Ich bin hier geboren. Also nicht hier .“ Ich verziehe leicht die Nase, als ich mich in dem stinkenden Schacht umsehe. „Sondern in New York. Mein Vater war Amerikaner, meine Mutter Deutsche. Sie sind extra kurz vor meiner Geburt hergereist, damit ich beide Staatsbürgerschaften habe.“ Ich blicke starr geradeaus in den dunklen Gang. „Sie starben. Meine Eltern. Es war kurz vor meinem achtzehnten Geburtstag, sie hatten einen bescheuerten Motorradunfall. Danach ging es mir … nicht sonderlich gut. Ich trieb mich mit den falschen Leuten herum, kümmerte mich nicht wirklich um meine Zukunft und war auch nicht immer der netteste Mensch. Alles war mir egal mit einem Mal.“ Ich trete eine leere Dose beiseite, die vor mir in dem Brackwasser treibt. „Eines Tages bin ich aufgewacht und habe mich gefragt, was ich da eigentlich tue. Mir wurde klar, dass es so nicht weitergehen kann. Am selben Tag noch packte ich meine Siebensachen, habe all meine Ersparnisse zusammen gekratzt und bin hergekommen.“ Ich zucke mit den Schultern. „Und bin dann irgendwie in Washington hängen geblieben.“
„Das tut mir leid.“ Liam sieht mich bekümmert von der Seite an. „Das mit deinen Eltern, meine ich.“
„Es ist inzwischen vier Jahre her, ich habe mich damit arrangiert, denke ich. Außerdem“, setze ich nach kurzem Zögern hinzu, „ist es vielleicht … naja, besser so. Ich habe sie verloren und das war der schlimmste Tag in meinem Leben. Aber ich weiß, dass sie tot sind, dass sie wirklich tot sind. Sie laufen nicht auf den Straßen herum und fallen Menschen an. Ich muss keine Angst um sie haben, verstehst du?“
„Ich verstehe ganz genau, was du meinst.“ Seine Lippen sind fest aufeinander gepresst.
Kurz schweigen wir beide. „Was ist mit deiner Familie?“, frage ich leise.
„Sie leben in Arkansas. Meine Eltern haben eine dieser altmodischen Farmen, weißt du? Mit riesigen Viehweiden, Ackerland, Scheunen, das alles eben.“
„Wow, das kenne ich so nur aus dem Fernsehen.“
Er lacht. „Ja, es war eigentlich ziemlich cool dort aufzuwachsen. Doch als ich älter wurde, habe ich es immer mehr gehasst und deswegen irgendwann das Weite gesucht. Meine Brüder haben es mir dann irgendwann nachgemacht.“
„Du hast Brüder?“, frage ich interessiert.
„Ja, drei.“
„Nicht schlecht. Ich habe es immer gehasst Einzelkind zu sein.“
„Aber wie du schon sagtest, ist das in solchen Zeiten vielleicht sogar besser.“ Ich sehe seine Sehnen hervortreten, als er die Taschenlampe krampfhaft umfasst.
„Weißt du“, sage ich, den Blick auf seine Hand gerichtet, „wenn wir jemals aus diesem stinkenden Loch hier raus sind und ich mich mindestens zwanzig Mal geduscht habe –“ Er lacht leise „– dann könnten wir uns doch auf den Weg nach Arkansas machen, was meinst du? Wir wissen doch ohnehin nicht, wo wir hin sollen. Und eine große Farm scheint mir ein guter Platz zu sein für eine Zombie-Apokalypse. Zusammen mit deiner Familie.“
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