»Du Schuft hast gelogen«, sage ich zu Alex.
Es ist für eine weitere Sekunde still am Tisch.
»Ja, hab ich. Hat sich aber offensichtlich gelohnt. Jarno ist wohl nicht der einzige am Tisch, der schmutzige Fantasien hat«, sagt er und sieht Kyala an, deren Gesicht von der Farbe einer Tomate nicht mehr zu unterscheiden ist.
Feuerrot ist sie. An was hat sie nur die ganze Zeit gedacht?
Aber es steht ihr gut. Etwas Farbe im Gesicht.
»Sex ist nur schmutzig, wenn er richtig gemacht wird«, erklärt uns Jarno und rundet das Thema ab.
»Na hör mal«, schnappe ich nach Luft.
Pause.
Unvermittelt lachen wir alle synchron los.
Sogar Kyala.
Nach dem leckeren Vegimenü habe ich mich von meinen neuen, supernetten Kollegen verabschiedet und mir von Alex den Weg zur Talentshow, wie Jarno die Aufnahmeprüfung nennt, beschreiben lassen.
Den Weg dorthin zu finden, ist nicht so einfach, wie ich zunächst annahm. Unterwegs bin ich anderen Kollegen begegnet, welche mich ausnahmslos freundlich grüßten. Es wäre jammerschade, wenn festgestellt werden sollte, dass ich talentfrei bin. Es fängt gerade an, mir im Institut zu gefallen. Nicht nur wegen Lu, Alex, Jarno und Kyala, den unverhofften Kollegen, die sich in meinem Herzen bereits wie Freunde anfühlen, sondern auch wegen der geheimnisvollen, mysteriösen Atmosphäre, die der ganze Komplex ausstrahlt.
Es ist nur befremdend, dass ich Levi davon nichts erzählen darf. Der würde ausrasten. Levi ist ein enthusiastischer Fan von historischen Artefakten und mysteriösen Geschichten. Aber nicht nur in dieser Sache sind wir das perfekte Liebespaar. Wir sind, wie zwei Puzzleteile, füreinander gemacht. Ich fühle mich so unglaublich wohl in seiner Gesellschaft. Liebe es, was er zu mir sagt, wie er es sagt. Wie er mich berührt und wo er es tut. Ich liebe diese Person, die ich bin, wenn ich mit ihm zusammen bin. Kaum zu glauben, dass wir erst ein Jahr zusammen sind.
Ich finde mich hunderte Schritte später in einem der Obergeschosse wieder und setze mich auf eine breite Fensterbank aus Eichenholz, die den ganzen Gang entlang reicht. Die Fenster sind zum Innenhof ausgerichtet und die Mittagssonne flutet widerstandslos durch die hohen Glasreihen herein und verleiht dem Dielenboden eine wunderschöne, goldbraune Farbe. Ausnahmsweise bin ich hier ganz allein. Ich sehe auf meine Uhr.
Noch 17 Minuten.
Bin ich die einzige Neue, die zum Talenttest muss?
Meine Muskeln an meinem Hintern kribbeln vor Aufregung und schließlich halte ich die Warterei nicht länger aus und fange an, wie eine Raubkatze den Gang rauf und runter zu laufen. Mir kommen schreckliche Gedanken. Fast alle drehen sich um mein mögliches Versagen, wie niedergeschlagen ich wäre, wenn ich kein Talent hätte.
Dann, nach endlosen Minuten des Wartens, in denen mich meine eigenen Ängste plagen, kommt eine Person die Treppe hoch.
Ich bleibe stehen und lausche den Schritten, die die Stufen aus Holz zum Quietschen bringen. Ein übergewichtiger Mann mit Ledersohlen, denke ich und behalte Recht. Das erste, was mir zu ihm einfällt, ist, dass er Al Capone ist.
Die Haare sind, von seiner breiten Stirn ausgehend, zurückgeklebt. Er trägt einen gebügelten schwarzen Anzug, Krawatte und schwarze Schuhe. Ich bleibe wie angewurzelt stehen und sehe ihn an und mit jedem Schritt, mit dem er sich mir nähert, scheine ich ein Stückchen kleiner zu werden.
Der Mann ist sehr dick und er ist ein Riese.
Er bleibt nicht stehen, sondern sagt im Vorbeigehen: »Frau Engel? Aeia Engel?« Seine Stimme klingt heiser und kratzig. Er ist wahrhaftig Al Capone.
»Ja«, höre ich eine junge Frau antworten, die klingt wie ich.
»Folgen Sie mir!« Ich wäre nie im Leben auf den Gedanken gekommen, ihm zu widersprechen.
Wir betreten einen Raum, zu dem er uns, mit dem Fingerabdruck seines rechten Daumens, Zugang verschafft. Ich habe etwas anderes erwartet. Geräte, vielleicht mit Drähten und Saugnäpfen daran, die man auf der Kopfhaut oder Brust anschließen kann, um Talentwellen zu messen.
Oder irgendwelche Hightechscanner. Oder zumindest irgendetwas Elektronisches. Aber außer der Glühbirne an der Decke, kann ich nichts, was Strom benötigt, ausmachen.
Ich komme mir vor wie in einem Büro aus der Kolonialzeit. Natürlich bin ich selbst noch nie in einem gewesen, aber in meiner Vorstellung hätte, anstatt meiner, auch Christoph Kolumbus hier stehen können, um bei der spanischen Königin Isabella um die Überfahrt nach Indien zu ersuchen.
Es kommt der Zeitpunkt, an dem sich der Mann hinter seinem schweren Schreibtisch niederlässt und sich vorstellt. Ich stehe da, fühle mein Selbstvertrauen um mehr als ein Jahrzehnt zurückgeworfen, bin wie ein schüchternes Mädchen bei der Audienz beim Schulrektor.
»Ich bin Palo Davidi. Ich bin Teil des Vorstands des TREECSS-Instituts«, sagt er und während ich überlege, welcher sein Vor- und welcher sein Nachname ist, spricht er bereits weiter.
»Eine meiner wichtigsten Aufgaben ist es, neue Mitarbeiter, gestatten Sie mir den Ausdruck, neue Familienmitglieder, für das Institut zu gewinnen.«
Ich verstehe.
Er ist der Personalchef.
»Ich nehme an, Herr Meusburger hat Ihnen die gepflogenen Prinzipien und Regeln erläutert, deshalb lassen Sie mich gleich zur Sache kommen. Was glauben Sie, weshalb Sie hier sind?«
»Wegen der Talentshow«, purzeln die Worte über meine Lippen, bevor ich sie zurückhalten kann.
Eine Bombe aus Schweigen explodiert in seinem Büro.
Er sieht mich an.
Verzieht keine Miene. Das ist schlimm. Schlimmer als Wut, Empörung oder vielleicht habe ich auch auf ein Grinsen gehofft. Verflucht, ich strafe mich unsichtbare Ohrfeigen für meine Vorwitzigkeit.
»Tut mir leid. Das ist mir so herausgerutscht«, sage ich kläglich, weil ich die Stille nicht auszuhalten vermag.
»Frau Engel, gesetzt den Fall, ich wollte einen Clown einstellen, denken Sie, meine Wahl wäre dann auf Sie gefallen?«
»Äh?« Ich sehe ihn an und überlege.
»Nein, niemand lacht über meine Witze«, sage ich. Er sieht mich finster an. »Ich habe mich falsch ausgedrückt. Tut mir wirklich leid«, entschuldige ich mich bereits zum zweiten Mal.
»Nun, Sie haben die Chance, es wieder zu richten.«
»Meine Arbeit soll mir Spaß machen, nur dann kann ich Höchstleistungen vollbringen«, erkläre ich mich.
Für ein paar Herzschläge ist es wieder mucksmäuschenstill im Kolonialbüro. Ich bin drauf und dran, stolz darauf zu sein, wie mutig ich zu meiner Meinung stehe. Dann hoffe ich, dass er endlich in schallendes Gelächter ausbricht, mir auf die Schulter klopft und wir eine gute Basis zwischen Chef und Mitarbeiter haben könnten. Aber so kommt es nicht.
»Naturgemäß werden einige Aufgaben im Widerspruch zu dem Verständnis stehen, Spaß zu haben. Vergangene Nacht wurde einer Ihrer Kollegen bestialisch ermordet.«
Ich sauge laut die Luft ein. Werde zu meinem Erlebnis am Morgen zurückkatapultiert. Mich fröstelt es und jetzt bin ich es, die keine Miene verzieht und ganz still wird. »Glauben Sie vielleicht, es hat mir Spaß gemacht, ihn zu identifizieren? Denken Sie, es war für mich ein Vergnügen, mit seiner Frau zu sprechen? Ihr zu sagen, dass ihr Ehemann, der Vater ihrer Kinder, nicht mehr nach Hause kommt. Glauben Sie das, Frau Engel?«
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