»Zufällig?«
»Sie lügt«, sagt Jarno trocken und nimmt einen Schluck Wasser. Ich glaube Jarno. Nichts geschieht hier zufällig.
»Wie alt bist du?«
»Was schätzt du?« Das ist eine gemeine Frage, man kann so ziemlich alles falsch machen, wenn man das Alter einer Frau zu schätzen versucht.
»21«, sagt Alex. »Lu hat das Abi mit 15 gemacht, den Doktor vier Jahre später. Nichts Spektakuläres bei einem IQ von 157.«
»Spielverderber«, schimpft Lu und boxt Alex auf die Schulter.
»Und was hat der unerschrockene, verwegene, junge Mann zu berichten?« Mein Blick wandert zu Jarno. Ich fühle mich von Minute zu Minute selbstbewusster und bin tatsächlich bereit, es mit Jarno aufzunehmen.
»Ich habe Lu bei einem Auslandssemester in Finnland kennengelernt. Wir haben miteinander geschlafen. Seitdem bin ich wie ein Hund an ihrer Leine.«
Ich sehe ihn perplex an. Versuche, meine Fassung zu wahren.
»Das hättest du wohl gerne«, keucht Lu und wirkt aufgebracht. Ihre roten Wangen verraten sie. Sie hatten wirklich etwas miteinander am Laufen.
»Was ist mit dir? Wie alt bist du?«, fragt Alex und meint damit Kyala.
»Ich?«
Pause.
Kyala scheint im Kopf nachzurechnen. Es scheint eine recht komplizierte Rechenoperation zu sein.
»Ich möchte nicht darüber sprechen«, sagt sie schließlich.
»Auch Geheimnisse?«
»Lass sie in Ruhe, Alex«, sagt Jarno. »Jeder hier hat seine Geheimnisse«, kommentiert er Kyalas Entscheidung und sieht mir dabei direkt ins Gesicht.
»Was sind deine Geheimnisse?«, frage ich ihn.
»Ich habe keine«, sagt er und streicht sich über seine Nase. Eine verräterische Geste.
»Lügner.«
Jarno lächelt, schlürft an seinem Wasser und fängt an, sein Leben zusammenzufassen.
»Ok Leute. Jetzt kommt´s. Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Hört gut zu, denn das ist eine einmalige Sache.«
Lu muss kichern. Ich bin gespannt. Selbst Kyala kann sich für einen Moment von Alex unwiderstehlichem Äußeren losreißen.
»Ich bin 26 und wurde mit dem goldenen Löffel im Mund geboren. Mein Vater ist Vorstandsmitglied bei einem deutschen Schraubenkonzern. Ich habe noch drei Geschwister. Ich bin der älteste Sohn und verbrachte die meiste Zeit meines Lebens in Elite-Internaten in der Schweiz, Finnland und Deutschland, bevor ich mit 22 Jahren in diesem Institut einen Job annahm. Seitdem muss ich mir ein Zimmer mit jemandem teilen, der schnarcht wie ein Maulesel«, sagt Jarno in stinklangweiligen, monotonen Tönen. Er macht das absichtlich. Er ist ein Showman und inszeniert alles, was er sagt, als wäre es die Generalprobe für seinen nächsten Bühnenauftritt.
»Ich schnarche nicht«, sagt Kyala übergangslos und erntet mit ihrer Feststellung nicht nur Jarnos hochgezogene Augenbraunen, sondern auch meine und die von Lu.
Alex lacht lauthals: »Aber ich. Das behauptet zumindest dieser falsche Schwede am Tischende.«
Ich begreife. Jarno und Alex teilen sich ein Zimmer.
Alle Blicke gehen anschließend zu mir zurück. Ich bin wieder an der Reihe, mehr von mir zu erzählen.
»Ich studiere Psychologie. Vielleicht tue ich das um herauszufinden, was mit mir nicht stimmt. Denn ich habe noch nie Freundschaft schließen können. Tatsächlich mache ich anderen Menschen Angst«, offenbare ich und frage mich, warum ich das so offen unter Fremden zugebe. Vermutlich, weil mir diese vier Menschen alles andere als fremd erscheinen. Etwas verbindet uns miteinander, etwas, das sich anfühlt, wie eine magnetische Kraft. Wie ein Gravitationsfeld, zu dem wir alle gleichermaßen hingezogen werden.
Keiner macht sich über mich lustig, deshalb offenbare ich mich weiter: »Ich liebe die Natur und den Wald und die Bäume und Levi ist mein erster Freund. Er scheint überhaupt der erste Mensch zu sein, der sich, außer meiner Mutter, für mich interessiert.«
»Ganz falsch«, sagt Alex. Lu nickt. Jarno sieht mich ungerührt an und Kyala schweigt. »Wir interessieren uns alle für dich. Ab jetzt wird alles anders.«
Ich trinke einen Schluck Wasser, um den Kloß, der in meinem Hals steckt, runterzuschlucken. In der nächsten Sekunde bekomme ich wieder Jarnos unverwechselbaren Humor zu spüren.
»In meinem Leben zählen nur zwei Dinge. Eine tolle Frau in meinem Bett und ein gutes Paar Schuhe von Armani. Wenn ich nicht in dem einen stecke, stecke ich in dem anderen.«
»Könntest du deine schmutzigen Fantasien bitte wo anders ausleben«, schimpft Lu.
»Natürlich nicht.« Jarno lächelt neckisch. »Aeia, wie ist das bei dir? Was zählt in deinem Leben?«
Schweigen. Er hat es wieder geschafft, dass ich konsterniert dasitze und keine schlagfertige Antwort parat habe.
»Ich weiß nicht«, sage ich kläglich.
Jarno lässt nicht locker.
»Und ich dachte immer, das Leben junger Frauen dreht sich nur um Sex, Schuhe und Drinks.«
»Hör nicht auf ihn«, meint Lu. »Erzähl uns lieber, was du studiert hast?«, richtet sich Lu an Kyala.
»Nichts!«
Alle schweigen. Schon wieder. Zwei Fragen, so kurz hintereinander, konnten so einfach die ausgelassene Stimmung am Tisch wegblasen.
»Oh Sorry, das konnte ich nicht wissen«, entschuldigt sich Lu.
»Mir geht’s gut«, sagt Kyala leise aber ehrlich.
Wir essen weiter und das Essen schmeckt plötzlich etwas fader. Die allgemeine Vorstellungsrunde ist fürs Erste beendet. Kyala bleibt mysteriös, geheimnisvoll und hübsch. Und sie ist bereits wieder in ihren Tagtraum versunken, während ich mir nachdenklich weitere Stücke des Blumenkohlbratling einverleibe und nicht dahinterkomme, warum Jarno ständig versucht, mich zu necken.
»Und heute Mittag geht´s dann zur Talentshow, nehme ich an?«, beginnt Jarno, wie aus dem Nichts, mir wieder eine Frage zu stellen.
»Jarno, lass sie doch. Sie hat jetzt wirklich genug Fragen beantwortet«, sagt Lu.
»Warum, das ist doch nichts Schlimmes. Ist doch sozusagen die Aufnahmeprüfung«, meint Alex.
»Der Talenttest«, ergänzt Jarno.
»Wie Aufnahmeprüfung? Wie Talenttest?«
»Na ja, du hast ein verborgenes Talent. Deshalb bist du doch hier. Die haben dich ausgesucht, weil du besonders bist. Ein Talent hast, das für das TREECSS von Nutzen ist. Und wenn sich das heute Mittag nicht bestätigt, dann heißt es lebe wohl!«
»Alex!«
»Ist doch wahr. Warum soll sie nicht die Wahrheit erfahren?«
»Sollte sie jetzt nervös werden?«, fragt Jarno die Frage, die mich just in dem Moment beschäftigt.
»Nein, sollte sie nicht«, beginnt Lu zu beschwichtigen. »Die sind verdammt gut beim Treffen einer Vorauswahl. Kommt ganz selten vor, dass kein Talent in den Kandidaten steckt.«
»Was hast du denn für ein Talent?«, will ich von Alex wissen.
»Ich kann Gedankenlesen«, sagt er.
»Wie bitte?«, schießt es mir über die Lippen. Kyala spuckt vor Schreck ihren Saft auf den Tisch und Lu muss so loslachen, dass ihr ein Stück Schnitzel aus dem Mund flattert. Jarno grinst dieses selbstsichere, schiefe Grinsen.
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