Alex lässt mich los, nickt der Rothaarigen hinter mir zu.
Da erkenne ich, wer die Frau ist, die hinter mir steht. Sie ist es, die Alex aus ihrem Gate geschmissen hat und ihm gedroht hat, seine Kehle aufzuschlitzen.
Kyala beginnt Alex Hand zu bearbeiten, sich ihm auf außergewöhnliche Weise vorzustellen und mir geht es schlagartig wieder besser. Die rothaarige Frau hat unseren Tisch wieder verlassen, ist so schnell verschwunden, wie sie aufgetaucht war.
Als ich mich wieder gerade hinsetze, bemerke ich, dass der Schwede meine Hand hält. Hat er etwa mitbekommen, was mit mir los war und allen anderen am Tisch ist nichts aufgefallen? Wie seltsam.
Lu sieht Kyala und Alex zu. Und als ich Kyala beobachte, wie sie Alex Hand knetet, kann ich schon wieder etwas lächeln. Wie hübsch Kyala ist. Ein bisschen anders gekleidet, die Haare schön gemacht und die Männer würden ihr aus der Hand fressen.
Ich fühle mich gut und befreit. Keine Spur mehr von Eis auf dem Rücken oder kaltem Stahl zwischen meinen Rippen.
Der Schwede hält noch immer meine Hand fest. Seine ist weich und warm. Ich starre ihn wie ein erschrockenes Reh an. Mit einer langsamen, fließenden Bewegung lässt er mich los. Es fühlt sich an, als würde ich etwas verlieren. Ich habe Angst, dass die Schreckensbilder zurückkehren, aber das passiert nicht.
Unbeholfen rutsche ich auf meinem Stuhl hin und her und dann stellt er sich endlich vor. Jarno ist sein Name.
»Du bist Schwede oder?«, überlege ich wieder einmal viel zu laut.
»Wie kommst du darauf?«, fragt er.
»Dein Akzent.«
Er spielt mit seinen Lippen.
»Dein Aussehen.«
Nun nage ich an meiner Unterlippe.
»Dein Shirt. Hard Rock Cafe Helsinki«, sage ich schließlich einsilbig und zeige mit meinem Zeigefinger auf seine Brust. Eine Geste, die in Schweden vielleicht wie in Asien als Beleidigung aufgefasst werden könnte.
»Liebe Aeia, Helsinki ist die Hauptstadt von Finnland«, seufzt er.
Ich könnte im Boden versinken. Fühle, wie meine Wangen Feuer fangen.
»Und ich bin Lu«, sagt Lu plötzlich, die von Jarnos und meiner peinlichen Unterhaltung anscheinend nichts mitbekommen hat. Lu versucht Kyalas Hand zu erwischen, die ihr jedoch zweimal geschickt ausweicht und dabei ständig Alex Hand fest umklammert. »Seid ihr jetzt endlich fertig mit dem Vorspiel?«, fragt sie die beiden ein bisschen ungehalten.
»Also ich find´s urwüchsig«, gluckst Alex. Jarno lacht auf und irgendwann schaffen es Lu und Kyala dann doch noch, sich die Hände zu geben und die Duzfreundschaft ist unter uns allen besiegelt.
»Meusburger also, der ist echt ein schräger Vogel, aber er hat definitiv das größte Gehirn im Institut, wenn du mich fragst«, erzählt Alex. Kyala klebt an seinen Lippen und ich bin mir sicher, sie hört kein Wort von dem, was er sagt, sondern ist tief in einem nicht ganz jugendfreien Tagtraum versunken.
»Aber er hält es nicht lange mit seinen Mitarbeitern aus. Oder vielleicht sollte ich besser sagen, keiner kann sich da lange durchbeißen. Kyala und Vigor scheinen die einzigen Ausnahmen zu sein. Besser du schaust dich schon bald nach einem anderen Mentor um, bevor sie deine Erinnerungen wegschmelzen. Wäre echt schade, wenn du dich nicht mehr an mich erinnern würdest, jetzt wo wir uns gerade besser kennenlernen«, meint Alex.
»Ich bin Finne«, sagt Jarno plötzlich und völlig aus dem Zusammenhang gerissen. Ich sehe ihn für eine kleine Ewigkeit wie gelähmt an. Versuche, nicht wieder peinlich berührt zu sein und greife nach Alex Thema wie ein Schiffbrüchiger nach einem Rettungsring.
»Ich habe Meusburger zum Lachen gebracht«, sage ich hoffnungsvoll.
»Meusburger kann lachen?«, meint Lu, die gerade von ihrem Putenschnitzel ein Stück abschneidet.
»Er sagte, ich sei zu hübsch, und ich erwiderte, dass man das von ihm nicht gerade behaupten könne.«
»Das nenne ich mal kühn«, schmeichelt Jarno. Er macht mich nervös und ich weiß nicht wieso.
Und Alex und Lu müssen losprusten und plötzlich sind wir alle angesteckt und der ganze Tisch macht Geräusche wie ein Haufen Tiere. Auch Kyala, die so laut grunzt, dass sich die Leute noch fünf Tische weiter indigniert zu uns umdrehen.
»Lu hat gesagt, du wohnst in Freiburg«, meint Alex später, als wir uns wieder beruhigt haben.
Ich blicke ihn über den Tisch an und gewöhne mich langsam daran, mich nicht nur in der Gesellschaft von Bäumen, sondern auch bei Menschen wohl zu fühlen.
»Das ist richtig. Ich wohne dort mit meinem Freund. Levi und ich sind vor einem Jahr zusammengezogen.«
»Und wo lebte das verschreckte, ängstliche, kleine Mädchen davor?«, fragt Jarno. Er scheint mich zu röntgen.
»In einem Mädchenheim«, sage ich ehrlich und spüre an der Wärme meiner Wangen, dass mir diese Tatsache schon wieder peinlich ist.
»Ich dachte, du wärst adoptiert worden«, meint Lu.
»Ja, aber als meine Adoptivmutter mich verlassen hat, habe ich es dort nicht mehr lange ausgehalten und bin abgehauen.« Ich bemerke, wie ich meinen inneren Schutzwall hochfahre. Das Gespräch wird mir unangenehm.
»Interessant«, sagt Kyala.
»Kennst du deine leiblichen Eltern?«, fragt Lu und unvermittelt verändert sich die Atmosphäre. Alle sind angespannt, so als würden sie alle auf der Lauer liegen.
»Meine Mutter stammt aus Guatemala. Sie ist ein Nachfahre der Mayas. Über meinen leiblichen Vater weiß ich gar nichts. Er muss wohl Europäer gewesen sein oder immer noch sein«, ergänze ich hastig.
»Denke ich auch«, meint Jarno mit seltsamer Stimme.
»Warum?«, fragt Kyala, die langsam auftaut, denn sie hat schon ganze drei Worte gesagt.
»Du siehst aus wie ein Hybrid.«
»Jarno!«, ermahnt Lu erbost den jungen Mann neben ihr.
»Eine Kreuzung verschiedener Rassen. Halb lateinamerikanisches, halb italienisches Blut. Fehlt nur noch das Hard Rock Cafe Shirt aus Madrid.«
Ich funkle ihn an.
»Madrid liegt in Spanien und nicht in Italien.«
»Touché.«
Jarnos Augen lächeln.
Meine auch.
»Hast du denn nie versucht, sie zu treffen?«, fragt Lu.
»Anne, meine Adoptivmutter hat gesagt, dass mich meine leibliche Mutter aus Armut weggegeben hat. Sie haben eine Patenschaft in Lateinamerika übernommen und mich ausgesucht. Als ich mit zwei Jahren zur Adoption freigegeben wurde, haben sie keine Sekunde gezögert und mich zu sich nach Deutschland geholt. Ehrlich gesagt, bin ich mir nicht sicher, ob sich meine Mutter freuen würde mich wiederzusehen. Ich glaube, sie würde sich schämen. Das will ich ihr nicht zumuten.«
»Du hast auch einen Bruder erwähnt«, bohrt Lu weiter.
Habe ich das, überlege ich leise.
»Ja, aber darüber will ich nicht sprechen. Was ist mit euch? Wie lange arbeitet ihr schon hier?«, lenke ich von mir ab.
»Ich habe in München Informatik studiert, habe danach am Fraunhofer Institut über KI promoviert und bin dann eher zufällig hier gelandet«, erzählt Lu.
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