Da setzte der Schatten sich hin und ließ ein lang gezogenes Heulen hören. Althea schluckte. Es klang unheimlich, aber auch traurig. Althea lauschte, ob andere Wölfe ihm antworten würden, aber es blieb still. Er war also ganz allein. Genauso wie sie. Kälte kroch ihr den Rücken hinauf, erfasste ihren ganzen Körper, auch ihre Hände und ihr Herz. Althea keuchte auf. So sehr Phelan und Noemi und Bajan zu ihr hielten, am Ende stand sie immer allein da, allein mit ihrer Gabe und der Ablehnung der anderen Menschen. Sie erkannte, dass sie allein damit fertig werden und sich allein schützen musste. Niemand konnte ihr helfen, niemand. Sie ging in die Knie. Ein Zittern lief durch ihren ganzen Körper. Sie hatte Angst. Angst vor ihrer Zukunft, Angst vor den Menschen, auf die sie in Temora treffen würde. Der Aberglaube und die Furcht der Gildaer war das Eine, aber Menschen, die in der Lage waren, ihre Gabe als das zu erkennen, was sie war, etwas völlig anderes. Die Worte ihres Vaters fielen ihr ein, dass die Temorer versuchen würden, ihre Gabe für ihre Zwecke zu missbrauchen. Althea sah auf den einsamen Wolf und schwor sich bei seinem Anblick, dass sie dies niemals zulassen würde. Niemals! Unwillkürlich hatte sie bei diesem Schwur an Phelans Bernstein gefasst, den sie immer noch um ihren Hals trug. Sie hob ihn an ihre Lippen. Besiegelt!
Althea atmete auf. Als sie aufblickte, war der Schatten verschwunden. Beruhigt ging sie in ihr Lager zurück und kroch zu Noemi unter die Decken.
Kaum ein paar Dutzend Schritte entfernt ließ Nadim mit einer Gänsehaut auf dem Rücken seinen Bogen sinken. Bajan stand regungslos daneben und sagte nichts.
Am Abend des nächsten Tages hatten sie den Gletscher überquert. Auf dieser Seite franste er in tiefe, gefährliche Spalten aus, sodass sie eine Weile suchen mussten, bis sie wieder auf dem festen Grund des Gebirges standen. Vor ihnen erstreckte sich ein Hochtal ähnlich dem, das sie bereits durchquert hatten, nur dass es wesentlich länger war. In der Mitte sammelte sich das Schmelzwasser des Gletschers in einem See. Die Kinder konnten es nicht glauben, als sie die Farbe des Sees zum ersten Mal sahen. Er war türkisgrün. Nadim lachte, als er Phelans erstaunten Ausruf hörte. Da die Sonne bereits tief stand, beschloss er, hier Rast zu machen. Während die Männer das Lager aufbauten, gingen die Kinder auf Entdeckungsreise.
Der Gletscher und der See faszinierten sie ungemein. Phelan zog seine Schuhe aus und wickelte die Leinenstreifen von seinen Füßen. Er wollte sich waschen, sprang aber mit einem lauten Schrei wieder zurück. Das Wasser war so kalt, wie er es noch nie zuvor erlebt hatte. Althea spottete lauthals über ihn und erntete zum Dank eine Handvoll Wasser ins Gesicht. Prustend balgten sie sich, bis ihr Blick auf den Bach fiel, der aus dem Gletscher hervorkam. Daneben war eine tiefe Spalte zu sehen.
Sie wagten sich ein wenig in die Spalte hinein, so weit, bis es fast dunkel wurde. Es plätscherte von allen Seiten. Mit einem Mal sandte die tief stehende Sonne ihre Strahlen durch das Eis. Staunend drehten sie sich in einer Höhle, deren Wände in einer Kaskade von Farben leuchteten. Zu dem Rot der in den Eingang scheinenden Abendsonne gesellte sich tief drinnen ein unwahrscheinlich tiefes Blau.
»Solch eine Farbe habe ich noch nie gesehen«, sagte Phelan ehrfürchtig.
Althea staunte. »Oh doch, das habe ich schon einmal gesehen. Jemand hat solche Augen.« Sie sah auf den Punkt, wo die Abendsonne nicht ganz an das Eis heranreichte. Dort leuchtete das Blau am kräftigsten.
Phelan wandte sich verwundert zu ihr um. »Ja? Wer denn?«
»Denk nach. Du kennst ihn auch!«, lächelte Althea.
Phelan machte eine verdutze Miene, aber nicht lange. »Ja natürlich! Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Es ist Jeldrik, nicht wahr?«
Althea nickte. Noemi wollte wissen, wer Jeldrik war, also erzählten sie ihr auf dem Rückweg zum Lager von ihren Erlebnissen mit dem saranischen Jungen. Da sie schon dabei waren, baten die Kinder Bajan nach dem Essen, ihnen auch von der Expedition zu berichten. »Und lasst nichts aus, wir wissen, dass Currann jemanden getötet hat«, sagte Althea.
Bajan zog die Augenbrauen hoch. »Woher wisst ihr das? Currann hat es euch doch gewiss nicht erzählt!«
Althea und Phelan tauschten einen schnellen Blick. »Ähm, wir haben Euch belauscht, als Ihr es dem König berichtet habt«, gab Phelan verlegen zu.
»Soso! Ich wollte euch eh noch nach den Gängen in der Festung befragen. Aber das hat Zeit. Was wollt ihr wissen?« Er sah die Augen der drei gespannt auf sich gerichtet.
»Beschreibt uns die Lichter«, bat Althea prompt. Sie wollte alles darüber wissen, schließlich hatte Bajan sie selbst gesehen.
Doch Noemi hob die Hand. ›Ich weiß noch gar nichts darüber. Fangt doch von vorne an.‹
›Verzeih, natürlich‹, entschuldigte sich Althea bei ihr. Also erzählte Bajan ihnen von der Expedition. Nichts ließ er aus, auch nicht, dass Currann am Anfang seine Mühe gehabt hatte, mit den Männern mitzuhalten. Phelan und Althea kringelten sich bald vor Lachen, als sie davon hörten.
Noemi nahm ihn sofort in Schutz. ›Als wenn eure Kehrseite nicht geschmerzt hätte, gebt es zu!‹
›Ja schon, aber Currann tat immer so erfahren. Inzwischen wird er es wohl sein‹, zeigte Phelan.
Altheas Lachen verstummte, als sie Phelans Zeichen sah. »Wo er jetzt wohl ist?«, fragte sie leise. Sie sahen sich traurig an.
»Er ist am Leben, das genügt«, sagte Bajan. Dass er Altheas Träumen vollkommen vertraute, tat ihr gut. Sie schloss beruhigt die Augen und lauschte Bajans leiser Stimme.
An diesem Abend sprachen sie bis tief in die Nacht hinein. Die Kinder lauschten fasziniert Bajans Erzählungen, die er durch nichts beschönigte. Phelan interessierte sich besonders für die Unterschiede zwischen den Saranern und den Gildaern, aber da konnte ihm Bajan auch nicht weiterhelfen. Er erzählte ihnen von seinem Verdacht bezüglich der Saraner und von dem, was bei der zweiten Vorführung der Waffen vor dem Rat geschehen war. »Ich glaube, dass sie so etwas wie eine Heeres- und Kampfesdisziplin nicht kennen und dass auch die Ferrium Waffen Neuland für sie sind. Sie haben uns nicht einmal ansatzweise zeigen können, was sie für Möglichkeiten bieten.«
»Deswegen also habt Ihr damals im Turm..« Althea ging ein Licht auf.
Auf Bajans fragenden Blick erklärte Phelan: »Wir hatten uns gewundert, warum Ihr über Nusair gesagt habt, er habe sich verführen lassen wie ein kleiner Junge. Er hat die Waffen zu früh geordert und viel zu viel für sie bezahlt, nicht wahr?«
»Ihr habt gelauscht!« Für Bajan war es keine Frage. Phelan und Althea grinsten. Er schüttelte resigniert den Kopf. »Gegen euch ist wirklich kein Kraut gewachsen. Mein Verdacht mag wohl richtig sein, aber es hilft uns bei den Unterschieden zwischen Gildaern und Saranern nicht weiter. Ihr solltet euch eines bewusst sein: Nur wenige sind so weltgewandt wie Fürst Roar oder Meister Anwyll oder gar dein Vater, Althea. Ihr müsst euch darauf einstellen, dass ihr auf ein vollkommen fremdes Volk trefft, mit genau solch Vorbehalten wie die Gildaer. Haltet also Augen und Ohren offen, verstanden?«
Das Grinsen der beiden erlosch. Bajan bereute seine scharfen Worte etwas, aber es musste sein. Sie mussten sehr vorsichtig sein.
Althea starrte abwesend vor sich hin, während Bajan Phelan die Möglichkeiten einer neuen Kampfesweise beschrieb. Eine Bewegung an ihrem Bein ließ sie wieder zu sich kommen. Noemis Kopf war schlafend in Altheas Schoß gesunken. Sie tauschte ein Lächeln mit Phelan, der sich erhob und ihr half, ihre Freundin umzubetten.
Da er Wachdienst hatte, begab sich Phelan gleich darauf zu Nadim. Der Kundschafter blieb noch ein wenig bei ihm sitzen. »Deine Cousine sollte achtgeben«, sagte er schließlich nach einer Weile des Schweigens.
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