Bereits nach kurzer Zeit erkannten die Kinder, wie recht Nadim mit den Kristallen hatte. Selbst durch den Ruß taten ihre Augen bald unangenehm weh. Ihre Füße wurden erst feucht, dann eiskalt, denn anders als die Männer trugen die Kinder keine festen Stiefel, sondern nur dünne Lederschuhe.
Phelan biss die Zähne zusammen, als er nach anfänglichem Schmerz seine Zehen überhaupt nicht mehr spürte. Noemi erging es ähnlich, zumal sie durch ihr leichtes Gewicht wesentlich mehr Mühe hatte, sich auf dem glatten Eis zu halten. Sie konnte nicht so fest auftreten wie die anderen. Althea bekam zudem starke Kopfschmerzen, die sie alles andere vergessen ließen.
Gegen Mittag waren alle restlos erschöpft. Nadim beschloss, eine Rast einzulegen. »Zeigt mir eure Füße«, forderte er die Kinder besorgt auf, als er die Kristalle abnahm und die dunklen Flecken an ihren Schuhen sah. Althea rührte sich nicht, sie hatte sich mit geschlossenen Augen zurückgelehnt, aber Phelan und Noemi zogen gehorsam ihre Schuhe aus. Nadim fluchte lautlos, als er die rot gefrorenen, angeschwollenen Zehen sah.
»Haltet sie in die Sonne. Wir müssen sie wärmer einwickeln.« Er begann, in seinen Taschen zu wühlen.
Bajan beugte sich unterdessen über Althea. »Geht es dir gut?«
»Hmmm..« Althea holte tief Luft, dann richtete sie sich wieder auf. Sie beugte den Kopf und barg ihn in den Händen. Bajan musste schon sehr genau hinsehen, um das Licht erkennen zu können, aber er war sicher, dass sie es gerufen hatte.
»Ich habe ein wenig Kopfschmerzen.« Sie schüttelte sich kurz und blickte dann auf.
Bajan lächelte und raunte ihr zu: »Lass die Kristalle auf, sicher ist sicher.«
Jetzt lächelte auch Althea. Es war nur ein kurzer Schimmer zwischen ihren Händen gewesen, kaum zu sehen in der gleißenden Sonne, aber die Augen hätten sie unweigerlich verraten. Phelan und Noemi sahen fragend auf, während sie ihre Füße massierten. Althea schüttelte unmerklich den Kopf. So wie die beiden da saßen, mit nackten Zehen und diesen merkwürdigen Dingern auf den Augen, sahen sie wirklich komisch aus. Althea begann zu grinsen.
Phelans Mundwinkel zuckten. »Willst du mir die Füße massieren?« Er streckte grinsend die Zehen in ihre Richtung.
»Iih pfui, wie lange hast du die nicht mehr gewaschen?!« Sie ließ sich zurückfallen und begann zu kichern.
»Och schade!« Phelan zuckte grinsend mit den Schultern. Seine Füße würden kalt bleiben, bis sie heute Abend ungestört waren.
Bajan schmunzelte in sich hinein, war sich aber Nadims Gegenwart bewusst. »Hast du etwas gefunden, was die Kinder umbinden können?« Er trat zu seinem Freund.
»Hier, das wird gehen.« Nadim hielt ihm einen Beutel auf.
Bajan reichte Phelan ein paar Leinenstreifen und half Noemi, ihre Füße fest einzuwickeln. Er zog die immer noch feuchten Schuhe darüber. Die Kleine dankte ihm mit einem Lächeln.
Nadim hockte sich vor Althea. »Die Höhe hier kann bei manchen Menschen merkwürdiges Verhalten verursachen. Wenn das bei dir der Fall ist, werden wir dich festbinden und tragen müssen.« Althea richtete sich mit einem Ruck wieder auf. Das Lachen blieb ihr im Halse stecken. Sie konnte zwar Nadims Gesicht nicht genau sehen, aber der Unterton in seiner Stimme entging ihr nicht.
Bajan wandte alarmiert den Kopf. »Nadim!«
»Lass nur, mein Freund. Genau wie du kann ich es nicht leiden, wenn etwas vor mir verborgen wird. Aber ich bekomme es schon noch heraus, keine Sorge. Brechen wir auf.« Er hielt Althea die Hand hin. Sie ignorierte diese und stand selbst auf. Sofort waren Phelan und Noemi an ihrer Seite. Diese wachsamen Blicke waren Nadim unheimlich. Er stand auf, nahm die Zügel seines Pferdes und ging wortlos voran. Bajan sah ihm besorgt hinterher.
Den restlichen Tag marschierten sie schweigend, und die folgende Nacht verbrachten sie in einer Mulde auf dem Eis. Es war noch kälter als in der Nacht zuvor, da sie kein Feuer entfachen konnten. Nach ihrem Erlebnis mit den Wölfen beschlossen Nadim und Bajan, gemeinsam Wache zu halten. Althea wartete, bis sie auf ihren Wachposten waren, dann tastete sie unter ihren Decken nach Noemis Füßen und begann, sie zu wärmen. Noemi seufzte wohlig auf, als sie ihre Füße wieder spürte, und Althea ließ sie auch gleich einschlafen.
»Phelan, willst du auch?«, flüsterte sie.
»Hm..« Phelan tat so, als würde er schon fast schlafen. Oh ja, ihm war kalt, und seine Füße waren wahre Eisklötze, aber er hatte sich doch geschworen, nie wieder..
Aber da war Althea auch schon bei ihm. »Sag mal, hast du irgendetwas?«, flüsterte sie, als sie die Decken über sie beide zog und sie merkte, wie er sich versteifte.
»Nein!« Ungewollt klang Phelan ärgerlich.
Althea fackelte nicht lange. »Her mit deinen Füßen, nun mach schon! Wer weiß, wann Nadim zurückkommt.« Sie packte zu, bevor Phelan auch nur protestieren konnte. Sofort wurde ihm angenehm warm, und er entspannte sich. Innerlich schalt er sich einen Narren. »Besser?« Althea ließ die Augen geschlossen für den Fall, dass Nadim zu ihnen herübersah, und wandte Phelan den Rücken zu.
»Jaah..« Ohne dass er es wollte, schlang er den Arm um sie und zog sie dicht an sich.
Althea kuschelte sich an ihn. »Sag mal, warum willst du nicht mehr bei uns schlafen?«, fragte sie nach einer Weile. Phelan versteifte sich sofort. »Also hast du doch etwas!« Althea drehte sich zu ihm um und sah ihn aufmerksam an. Selbst im bleichen Mondlicht konnte sie sehen, dass er mit etwas zu kämpfen hatte.
»Ich .. ich hatte einen schlimmen Traum. Es war so .. wirklich, als wäre ich dort. Ich bin irgendwann aufgewacht und konnte nicht wieder einschlafen. Ich wollte dich nicht wecken, verzeih.«
Althea ließ sich zurücksinken und sah zu den Sternen auf. »War es schlimm?«
»Ja, sehr. Ich habe geträumt, dass Alia und Lelia die Rollen tauschten. Sie hat mich verfolgt.«
»Es macht einem Angst. Ich weiß es.« Althea drückte beruhigend seine Hand.
Phelan seufzte. »Ich schlafe eh schon unruhig genug, da möchte ich euch nicht auch noch darum bringen. Ich denke, es ist besser so.«
»Du solltest es üben wie Fürst Bajan und Nadim. Sie können immer schlafen. Aber ich weiß, was du meinst.« Althea spürte, während sie zum Himmel aufsah, dass er wieder ruhiger wurde. Sie war sicher, dass dies noch nicht alles war, wollte aber nicht in ihn dringen. Aber eines konnte sie für ihn tun. »Ich kann dich einschlafen lassen, wenn du das willst. Noemi hat auch schon etwas abbekommen. Möchtest du?« Sie sah Phelans Zähne im Mondlicht aufblitzen, als er zu lächeln begann.
»Wenn du willst .. ich könnte den Schlaf gebrauchen.«
»Dann mach die Augen zu.« Sie fasste seinen Kopf mit beiden Händen, nicht ohne vorher die Decken über sie gezogen zu haben. »Schlaf gut«, flüsterte sie und sandte das Licht in ihn.
Die tiefen Atemzüge Phelans verrieten ihr, wann sie aufhören musste. Sie erhob sich und deckte ihn fest zu. Dann streckte sie sich. Auch wenn sie müde war, konnte sie doch noch nicht schlafen. Nadims Verhalten beunruhigte sie zutiefst. Er versuchte, hinter ihr Geheimnis zu kommen, aber er würde scheitern. Das konnte man mit normalen Mitteln nicht ergründen.
Althea sah sich suchend um und entdeckte die beiden Männer in einiger Entfernung. Sie wandte ihnen demonstrativ den Rücken zu und sah stattdessen auf den mondbeschienenen Gletscher hinaus. Es war vollkommen still. Der Wind hatte sich gelegt, und die Landschaft hatte etwas Unwirkliches, so weiß und kahl.
›Wie das Reich der Toten‹, dachte Althea und zog fröstelnd ihren Umhang enger um sich. Gerade als sie sich entschlossen hatte, wieder zu Noemi zurückzukehren, nahm sie plötzlich am Rande des Eisfeldes eine Bewegung wahr. Ein Schatten glitt über das Eis.
Althea kniff die Augen zusammen. War es nur einer? Ja, es war nur einer. Ohne dass sie es bemerkt hatte, war sie einige Schritte auf das Eis hinausgelaufen. Der Schatten verharrte, als er sie entdeckte. Althea ebenso.
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