Er wusste, dass seine Mutter und seine Schwester in Gedanken bei ihm waren, wann und wo immer er sich befand, genauso wie er an sie dachte. Und er war nicht allein, er hatte Althea und Noemi und Fürst Bajan, der auf sie achtete. Bei diesem Gedanken verweilte er, immer noch nicht fähig einzuschlafen.
Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er überhaupt eine Ahnung davon bekam, wie es war, einen Vater zu haben. Sicherlich, Thorald hatte ihn unterrichtet, und er hatte Althea und ihren Vater ihr ganzes Leben lang zusammen gesehen, aber für ihn war Thorald niemals ein Vaterersatz gewesen, zu distanziert war seine Art. Aber diese Wochen mit Bajan waren etwas anderes und auch nur ein Hauch davon. Phelan konnte es nicht ganz begreifen, aber er ahnte nun, warum sein Bruder immer mit Vorfreude zu Bajans Unterweisungen gegangen war.
Doch es regte sich in ihm auch ein kleines bisschen Eifersucht. Sicherlich war Currann der Thronfolger, aber warum hatte er bei den Unterweisungen nicht dabei sein dürfen? Darauf wusste er keine Antwort. Gleichzeitig wuchs die Wut auf seinen Vater ins Unermessliche. Warum nur hatte er sie im Stich gelassen? Und war stattdessen bei dieser..
Phelan kniff die Augen zusammen und verbat sich den Gedanken. ›Schlaf endlich. Was Bajan und Nadim können, kannst du auch!‹ Also richtete er seine Gedanken auf diejenigen, die ihm geblieben waren. Eine lag dicht bei ihm, er spürte ihre Wärme und ihre ruhigen Atemzüge. Keine Träume heute Nacht. Phelan lächelte in sich hinein und war gleich darauf eingeschlafen.
Es war ihm nicht vergönnt, ruhig zu schlafen. Er fiel in einen erschreckend realen Traum: Er lief durch die unterirdischen Gänge der Festung, er suchte Althea, hörte sie rufen, konnte sie aber nicht finden. Stattdessen fand er eine erleuchtete Tür und dahinter .. Alia, mit dem Rücken zu ihm kniete sie auf einem Bett, und unter ihr lag der Maskierte. In seinem Traum schrie Phelan auf. Er versuchte, sich hastig zu entfernen, aber er kam nicht fort. Alia hatte ihn gehört, sie drehte sich zu ihm um, das Gesicht verzerrte sich. Ungläubig starrte er darauf, als es Lelias Züge annahm. Sie stand auf, kam auf ihn zu, und das Gewand schwang weit auf..
Phelan erwachte schweißgebadet. Gleichzeitig zitterte er vor Kälte. Die Decken waren von ihm heruntergerutscht, sie lagen in einer Lücke zwischen ihm und Althea. Er hatte zwischen seinem bloßen Rücken und der Tasche nur den dünnen Stoff seiner Tunika und des Umhangs. Verstört erkannte er, dass er zusammengekrümmt da lag, die Beine angezogen und die Hand fest zwischen sie gepresst. Er zog sie hervor und zuckte zusammen. Seine Hand war feucht.
Phelan war so schnell auf den Beinen und vom Feuer weg, als wäre ein Raubtier hinter ihm her. Draußen im Dunkeln lehnte er sich zitternd an einen Felsen. Voller Ekel vor sich selbst blickte er sich um, aber von Bajan war zum Glück nichts zu sehen. Er suchte sich eine windgeschützte Ecke und schlug sein Wasser ab, dann reinigte er sich. Anschließend sank er mit weichen Knien zu Boden.
Er versuchte zu begreifen, was soeben geschehen war. Oh, er wusste schon, worum es sich dabei handelte, in der Heerschule hatte er die versteckten Andeutungen der anderen Jungen gehört, aber er hatte es immer für ein Produkt ihrer übersteigerten Fantasien gehalten. Nie hatte er damit gerechnet, dass er selbst .. er schüttelte sich. Und er hatte hinter Althea gelegen, seiner Althea! Phelan stöhnte auf. Wie konnte er nur! Er war nicht besser als jener Eine im Palast!
»Alles in Ordnung mit dir?« Phelan schrak hoch. Nur schemenhaft konnte er den Umriss von Bajan erkennen, der sich besorgt über ihn beugte.
»Ich .. ich hatte einen schlimmen Traum.« Phelan schluckte. »Ich .. glaube, dass es Lelia schlecht ergehen wird. Fürst, sind Visionen ansteckend?«
Wäre die Lage nicht so ernst gewesen, hätte Bajan vielleicht gelacht, aber so sagte er ruhig: »Nein, das glaube ich nicht. Aber du hast viel erlebt und musst dies verarbeiten. Entweder du sprichst mit jemandem darüber, oder aber du tust es in deinen Träumen.« Die Stille nach seinen Worten dehnte sich. Bajan wartete, dass Phelan etwas sagte, aber dieser war noch so in seinem Erlebnis gefangen, dass er nicht sprechen konnte.
Schließlich spürte Phelan eine Hand auf seiner Schulter und wurde gewahr, dass Bajan immer noch da war. »Komm zurück ans Feuer, hier ist es zu kalt.«
Phelan nickte, wartete aber, bis Bajan sich entfernt hatte. Er sah an sich herab und ertastete erleichtert, dass seine Tunika in der kalten Luft getrocknet war. Trotzdem wickelte er fest seinen Umhang um sich, als er zum Feuer zurückging. Er schob die Tasche dicht an Althea heran, sodass sie wieder ganz umfangen war. Dann setzte er sich ans Feuer, den Mädchen gegenüber, und betrachtete ihre friedlichen Gesichter, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Altheas hohe Wangenknochen und schräge Augen mit dem überraschend schmalen Gesicht, das jetzt, wo sie die Haare so kurz trug, erst richtig zum Vorschein kam. Dagegen Noemis kleines, herzförmiges Gesicht mit den feinen Zügen und den langen, glatten dunklen Haaren. Phelan ballte die Hand zur Faust. Nein, das würde er nie wieder zulassen.
Er schrak hoch, als er spürte, wie ihm eine Decke umgelegt wurde. »Hier, nimm meine. Manchmal ist es besser, man schläft für sich allein.« Als Phelan mit hochrotem Kopf herumfuhr, war Bajan bereits wieder in der Dunkelheit verschwunden.
Der Last entbunden, für den Rest der Nacht auf sich achtgeben zu müssen, schlief Phelan traumlos, jedoch wurde Althea zunehmend unruhiger. Sie spürte, dass etwas fehlte, und wachte schließlich lange vor der Morgendämmerung auf. Sogleich sah sie, dass Phelan auf der anderen Seite des Feuers schlief. Ihr war seltsam kalt, und das lag nicht nur daran, dass die Wärmequelle hinter ihr fehlte. Warum war er plötzlich fort und schlief für sich? Hatte sie ihn wieder im Schlaf gestört? Beunruhigt versuchte sie, wieder einzuschlafen, aber vergebens. Also machte sie sich auf die Suche nach Bajan, nicht ohne Noemi vorher fest in die Decken eingewickelt zu haben. Die Kleine seufzte lautlos, wachte aber nicht auf.
Althea fand Bajan ganz in der Nähe auf einem Felsen sitzend, der eine windgeschützte Mulde aufwies. Er lächelte, sie sah es an den aufblitzenden Zähnen, als er sie kommen sah. »Kannst du nicht schlafen?«, fragte er und hob seinen Umhang, um ihn um Althea zu legen. Dankbar schlüpfte sie darunter und lehnte sich an ihn. »Schau hoch, du kannst hier sehr viele Sternschnuppen sehen. Manchmal hörst du sie sogar.«
Althea riss die Augen auf, als gleich darauf eine besonders prächtige, lange Sternschnuppe quer über den Himmel jagte. Man konnte das Zischen deutlich hören. »Sind wir schon so weit im Himmel?«
Bajan lachte leise. »Nein, nur viel höher, und die Luft ist dünner. Deswegen sind wir alten Männer auch so leicht aus der Puste. Weißt du, was Sternschnuppen sind?«
Althea schnaubte empört. »Natürlich weiß ich es. Es sind Gesteinsbrocken, die vom Himmel fallen. Manchmal findet man sie sogar noch, und sie sehen anders aus als alles, was es hier an Steinen gibt. Vater sagt, dass..« Sie hielt inne.
Bajan wandte den Blick vom Himmel ab auf die kleine Gestalt in seinem Arm. »Was sagt dein Vater, Kleines?«, fragte er behutsam.
Althea musste die Augen zusammenkneifen. Die Sterne verschwammen. Sie spürte einen seltsamen Druck in der Kehle. „..dass die Temorer glauben, die Sternschnuppen kommen von der Welt der Toten. Sie weinen um uns, aber gleichzeitig..« Sie verstummte.
»Ist schon gut, Kleines.« Bajan drückte sie an sich und sah wieder hinauf.
»Glaubt Ihr .. was haben sie mit ihm gemacht?« Althea brachte die Worte kaum hervor.
»Oh, Kleines, das weiß ich nicht. Ich will dir keine Angst machen, aber .. du hast ja selbst schon erlebt, was .. aber ich weiß, dass dein Vater mit ihnen fertig werden wird. Er hat es gelernt, in Temora, dessen bin ich sicher. Und du wirst es auch lernen, verstanden? Alleine schon um deines Vaters willen!«
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