"Ja? -Ja!", hat er gesagt.
"Sie sind ...? Du bist ...“
"Cornelia", hat er gesagt. "Mensch, Conny!"
Wir haben uns gegenübergestanden, ein paar Meter entfernt, und die Leute sind an uns vorbeigelaufen, als gäbe es uns nicht. Es hat gedauert, bis wir den ersten Schritt aufeinander zu gemacht haben. Ich habe diese Sekunden der Schwerelosigkeit genossen, und ich denke, Ludwig ist es ebenso ergangen. Es war ihm wenig anzusehen, er ist nur nicht mehr ganz so blass gewesen. Ludwig hat seine Gefühle auch damals nicht aller Welt zeigen können; aber ich weiß in seinen Augen zu lesen.
Eine Straßenbahn hält vor meinem Fenster, obwohl hier keine Haltestelle ist. Sie verstellt mir den Blick auf die beiden an der Haustür. Ich springe auf, bücke mich, als könnte ich es erzwingen, drunter durch oder darüber zu sehen. Ich laufe in die Küche, aber auch von hier ist der Blick von der Straßenbahn verstellt, deren grelle Werbung mir ein fleckenloses Weiß verspricht, wenn ich meine Wäsche mit ... wasche. Der Name des Produktes ist mit einem schwarzen Totenkopf übersprayt.
Als ich ans Fenster meines Zimmers zurückkehre, fährt die Straßenbahn los. Ich muss noch den sich auflösenden Autostau abwarten, dann kann ich endlich die beiden wieder sehen: Fast unverändert lehnen sie aneinander, vielleicht etwas tiefer im Schatten des Türbogens, noch enger gefasst. Ich kann nicht erkennen, wer wen hält. Mir ist, als verändere sich das. Mal ist er es, mal sie. Jetzt erkenne ich, die beiden, die wie eins scheinen, schwanken leicht, als würden sie hin und her geschoben.
"Ludwig", habe ich gesagt. "Du hast es wohl sehr eilig?"
"Nein", hat er gesagt, dann flüchtig auf seine Uhr gesehen und energisch den Kopf geschüttelt.
"Wollen wir ...?"
„Ja. Ja." Wir sind losgegangen, wie auf ein festes Ziel zu, immer wieder schoben sich Menschen zwischen uns, aber es fiel uns leicht zusammenzubleiben.
In einer Bäckerei haben wir uns an einen Tisch gestellt und Kaffee getrunken. Wir haben wenig gesagt, nur Belangloses, ich habe es vergessen. Wir waren nicht verlegen, und es gab auch keine Fremdheit zu überwinden. Ich denke, uns hat einfach überwältigt, dass wir uns nach all den Jahren noch so nahe sind, als hätten wir nur voneinander getrennt ein paar Tage Urlaub gemacht. So viel Kaffee auf einmal habe ich in meinem Leben noch nicht getrunken. Es hat nach frischem Brot und Kuchen geduftet. Die Türglocke hat geläutet, wenn ein Kunde den Laden betrat oder verließ. Hinter uns verplätscherten die knappen Kaufgespräche. Ludwig und ich sahen durch das große Schaufenster auf die entgegengesetzten, nicht abreißenden Fußgängerströme und den hektischen Autoverkehr. Ab und zu nur blickten wir einander in die Augen, und wieder empfanden wir überwältigende Freude. Und wie nebenbei erzählten wir aus unseren Leben der letzten Jahre.
Das fällt mir erst jetzt wieder ein. Mir war so, als hätten wir kaum ein Wort miteinander gewechselt, nur unsere Nähe sei noch wichtig gewesen.
Die beiden im Hauseingang haben die Köpfe aneinander gelehnt. Es sieht aus, als hätten sie endlich im Schweigen zusammengefunden. In diesem Schwanken, dieser Pendelbewegung, sind sie harmonisch, als wären sie nun völlig aufeinander eingestimmt. Ich kann mich kaum an Einzelheiten von dem erinnern, was Ludwig Zeller mir und ich ihm alles erzählte. Es war ja in der Welt so viel passiert in den letzten Jahren. Was für die Ewigkeit geplant gewesen war, hatte die Geschichtsschreibung innerhalb von ein paar Monaten als Episode notiert. Wer fragt denn da nach dem Leben eines Einzelnen. Oder doch jemand?
Ich weiß nur noch, dass Ludwig Zeller, wie ich, nicht geheiratet und keine Kinder hat. Und dass er kein Offizier geworden ist, sondern Wirtschaftsjournalist bei einer großen Zeitung. Und dass er mir wichtig ist wie kaum jemand.
Das Pärchen steht unverändert, als wäre es zur Skulptur geworden. Aber diese Bewegungslosigkeit, dieses erstarrte Eins sein macht mich doch unruhig, ich öffne hastig das Fenster und rufe hinaus: "Hallo? Hallo!" Doch die beiden hören mich nicht. Jetzt schäme ich mich, schließe das Fenster und ziehe die Gardine zu. Soll mit den beiden da draußen doch passieren, was will. Ich habe hier drinnen mit mir zu tun. Es treibt mich im Zimmer auf und ab. Dann bleibe ich vor den Bücherregalen stehen, ziehe irgendein Buch heraus und blättere darin.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen war, als Ludwig Zeller und ich die Bäckerei verließen. Wir standen auf einem Fußweg, unsere Hände hielten sich, und ich sagte, um unser Zusammensein noch ein Weilchen auszudehnen: "Was für ein Zufall. Das alles ist doch ziemlich verrückt."
"Ja", sagte er. "Verrückt ist gut. Ja, schön."
Wir standen in dieser brodelnden Stadt wie auf einer winzigen Insel. Ein paar Sekunden standen wir steif und wussten nicht weiter. Das war so ein Moment, der über das weitere eigene Leben entscheidet. Das sind diese Augenblicke, in denen man wie im Märchen an einer Wegkreuzung mit vielen Schildern steht, die einem die richtige Richtung für den weiteren Weg weisen wollen. Ich musste nicht überlegen, und Ludwig auch nicht, denn wir fielen uns in die Arme, drückten uns so fest aneinander, dass wir beide leise aufschrien, fassten uns an den Händen und rannten los.
Wie ferngelenkt ziehe ich einen Hefter, der zwischen Dickens und Tolstoi klemmt, aus dem Regal, und ich weiß, das ist es, was ich finden wollte: Wie ein Vogel aus dem Ei.
Meine Teeniegeschichten, die ich damals unbedingt Ludwig schicken wollte. Was ich nie tat.
Als ich von zu Hause weg bin, habe ich sie aufgeschrieben. Ich weiß nicht, was sonst mit mir passiert wäre, wenn ich nicht zu schreiben begonnen hätte. Vielleicht wäre ich explodiert oder verschimmelt.
Also Conny und die Jungs. Werner Branstner und seine Taubengeschichte. Hans Wegener und die Schauspielerei. Frank Peter und die Stübbe-Ranch. Das Menschenschwein Henning. Und natürlich auch Ludwig Zeller und sein Rennrad.
Dazu all die anderen Menschen, die mir einmal nahe waren: von der Kneipenwirtin Jolly Eisenarm über meine "Freundin" Franziska, das Biest, Klassenlehrer Kröger, das magenkranke Angsthäschen, bis zu unserer Großen , meine Schwester Helga, das Sprintwunder. Ich schlage irgendeine Seite auf und lese nach all den Jahren zum ersten Mal wieder Maurers Gedicht von den Nachtsorgen , das mir damals immer wieder Hoffnung gab, als ich schon am Verzweifeln war.
Ich bin aus den Nachtsorgen gekrochen
wie ein Vogel aus dem Ei.
Ich habe die Schale durchbrochen
und spaziere jetzt frei.
Bin ich denn frei? Wirklich frei? Und was ist das überhaupt: Freiheit? Tun und lassen können, was man will? Anarchie. Das Chaos. Ich würde sagen, frei sein ist: sich selbst verantwortlich sein. Vielleicht habe ich ja auch darum alles immer wieder hingeschmissen: das Mathematikstudium, eine Hand voll feste Beziehungen, eine Rolle in einer der Endlos-Serien im Fernsehen, die Büro-, die Zeitungs-, die Rundfunkarbeit. Ich bin Schriftstellerin geworden. Zwei Bücher für Kinder sind bisher erschienen, sie haben keinen umgeworfen, aber ich werde weiterschreiben, denn ich bin voll von Geschichten, die ich für wert halte, dass sie aufgeschrieben und von Menschen gelesen werden.
Ich weiß jetzt, was die Hühner wissen,
wenn sie picken.
Ich weiß, wen die Raben grüßen,
wenn sie mit dem Kopf nicken.
Und nun läuft mir doch Ludwig Zeller über den Weg und fragt mich, ob ich mit ihm nach Brasilien gehe. Nicht nur für vierzehn Tage Ferien unterm Zuckerhut an der Copacabana. Nein, du und ich für ein Jahr zusammen auf einem anderen Stern. Und was dann? Und wie überhaupt?
Es gibt keine Zweierkiste mit Garantieschein. Du hast ja Angst, Conny. Ja, die hab ich. Wenn ich es nicht schon erlebt hätte: nach dem kurzen Höhenflug der langsame Absturz und der harte Aufprall. Gegenseitige Vorwürfe. Wut. Vielleicht Hass. O nein. Nein, nein. Nicht mit mir!
Читать дальше