»Da bleibt im Grunde nichts verborgen … bist du verrückt«, Kurt sprang kreischend vom Sofa.
»Du bist kitzelig, das wusste ich noch nicht.« Claudia lachte vor Begeisterung. Sie geriet kurz mit den Zehen unter seine Fußsohle. Sie sprang auf und schlich katzenhaft auf ihn zu. Protestierend lief er davon.
*
»Kennen Sie diese Frau?« Heinz klingelte schon an der fünften Tür in der Fliegerhorstsiedlung. Eine Familie hatte die Frau auf der Phantomzeichnung schon einmal gesehen, konnte jedoch nichts Weiteres dazu sagen.
Heinz rekapitulierte die Daten zur Siedlung in der Erinnerung. Ab den fünfziger Jahren hieß sie Fliegerhorstsiedlung, später dann Neuteveren. Im Sprachgebrauch blieb Fliegerhorstsiedlung, wobei die Einheimischen ihren Ortsteil »The Ghetto« nannten. Wenn man durch die Ansiedlung fuhr, gewann man den Eindruck auch.
Die British Royal Air Force baute und bezog 1953 in Teveren den Flugplatz, den sie bis 1968 nutzte. Während der Zeit entstand die Siedlung. Als Jugendlicher trieb sich Heinz häufiger am Flughafengelände herum. Hier gab es billige Zigaretten, wenn einer der Soldaten Geld brauchte. Außerdem gaben ihm die startenden und landenden Propellermaschinen das Gefühl, Verbindung mit der großen weiten Welt zu haben und nicht am Arsch der Welt zu leben. Später, als die NATO den Flugplatz übernahm, waren die Oktoberfeste auf dem Gelände angesagt. Wer Karten ergattern konnte, hatte für Wochen Gesprächsstoff. Dort lief nicht nur das Bier in Strömen, zumindest in den achtziger Jahren nicht. Der Standard war, eine Flasche Whiskey und Cola pro Person. Und zwar je ein Liter. Ein Gefühl von Wilder Westen und Freiheit.
»Kenne ich«, sagte der massige Mann im Unterhemd, dessen Bauch über den Hosenbund quoll. »Grace.«
»Und?«
»Sie wohnt dahinten in oder in der Nähe der Yorkstraße.«
»Können Sie mir Näheres über die Frau sagen?«
»Nee, kann ich nicht.«
»Wollen Sie nicht oder können Sie nicht?«
»Beides.« Er trat zurück und verschloss die Tür. Heinz klingelte noch mehrmals, jedoch erfolglos. Er war versucht, wütend gegen die Tür zu treten. Er hasste es, wie ein Hausierer, abgefertigt zu werden. Niemand überlegte, dass er zu ihrer Sicherheit tätig war. Diesen Typen bestellte er auf alle Fälle zur Belohnung ins Polizeipräsidium nach Aachen ein.
Wahrscheinlich hatten sie die letzten schönen Tage im Jahr. Ein goldener Oktober mit Temperaturen um die zwanzig Grad. In der nächsten Woche zogen die ersten Nachtfröste aus Osten heran. Er durfte nicht vergessen, den Oleander und die Geranien hereinzuholen.
Missmutig trabte Heinz zur Yorkstraße. Er bekam relativ schnell die mutmaßliche Adresse der Toten. Sie lag in einer willkürlich aufgebauten Häuseransammlung. Trist, mit schmutzigen Rasenflächen. Eine Reißbrettsiedlung. Nicht gewachsen. Sie besaß keine Atmosphäre, keine Geschichte und wenn, nur eine kurze. Trotzdem … mit ein wenig Pflege wäre ein schmucker Wohnbereich entstanden. Der ansehnliche Baumbestand erreichte teilweise ein Alter von über fünfzig Jahren.
Heinz stand vor dem schmucklosen Haus. Es wirkte unbewohnt, obwohl es trotz des guten Erhaltungszustandes einen toten Eindruck hinterließ. Das Gebäude beherbergte zwei Wohnungen. Weder an der einen noch an der anderen Türe erfolgte eine Reaktion, als er klingelte. Er war versucht, das ungepflegte Grundstück zu betreten und um das Haus herumzugehen. Das konnte Ärger geben, deshalb telefonierte er kurz mit Maria und bat sie, die Namen der Bewohner des Hauses zu ermitteln.
Von den Nachbarn wusste niemand etwas. Sie wirkten desinteressiert an dem, was in den anderen Häusern geschah. Eine merkwürdige Gesellschaft. Was erwartete er eigentlich? Sie waren Zugezogene, die in der Regel nach einigen Jahren wieder verschwanden. Heinz kannte hier einige, aber jenseits der Hauptstraße, auf der anderen Seite. Dort standen schmucke Häuschen, die von Einheimischen bewohnt wurden.
Minuten später rief Maria zurück. Peter und Grace Abels bewohnten die Hälfte des Hauses, vor der er stand. Abels arbeitete als Bordmechaniker bei den AWACs. Mehr konnte sie ihm im Moment noch nicht sagen. Claudia sei mit der Staatsanwaltschaft in Kontakt um das Personalbüro der Base, einzuschalten. Frustriert gab er für den Moment auf.
Heinz Bauer lebte nicht weit von hier in Windhausen, einem kleinen Dorf. Eine andere Welt als hier und dichterer Besiedlung. Als er, vor gefühlten hundert Jahren, den Berufsweg begann, lief vieles einfacher. Heute wurden die Verbrechen immer raffinierter und nutzten die neuen Techniken. Ihm bereitete dieser Umstand der Arbeit Probleme. Er hatte den Anschluss verpasst. In den Anfängen der DV-Einführung weigerte er sich standhaft, mit den Geräten zu arbeiten. Nie, zu keiner Zeit, bekam Heinz Zugang zu einem PC. Zwar benutzte er den technischen Schnickschnack mittlerweile als Schreibmaschine und rief E-Mails ab. Ansonsten bedeuteten diese Maschinen Teufelswerk für ihn. Er anerkannte die Möglichkeiten, die die Computerisierung in der Ermittlungsarbeit bot, doch wollte er damit nichts zu tun haben. Und … seitdem die Enkelkinder da waren, zog es ihn mehr und mehr nach Hause.
Dabei gefiel es ihm in dem Team mit Maria und Claudia. Die gemeinsame Vergangenheit … sie hatten so viel miteinander erlebt, dass er den Ruhestand immer wieder wegschob, wenn er darüber nachdachte. Die beiden Kolleginnen waren Teil seines Lebens und wussten sehr viel mehr von ihm, als irgendjemand anderes. Wahrscheinlich war das überall so, wo Menschen eng zusammenarbeiteten. Vor allen Dingen behagte ihm die unkonventionelle Abwicklung ihrer gemeinsamen Arbeit. Claudia ließ nie die Chefin heraushängen oder pochte auf ihren Status als Hauptkommissarin. Marias Frotzelei zu seinem Computerwissen würde ihm auch fehlen. Vielleicht machte er doch bis zum Ende. Mal sehen.
*
Mehrere Polizeifahrzeuge fuhren in der Yorkstraße vor und ein Schlosser öffnete die Eingangstüre der linken Haushälfte. Der Staatsanwalt stellte nach langem Hin und Her den Durchsuchungsbeschluss aus.
Ein kleiner dunkler Flur empfing Claudia und Heinz. Geradeaus und links ging je eine Türe ab. Keine Bilder an den Wänden oder gar eine Garderobe oder ein Schränkchen. Kahl und unbewohnt. Claudia öffnete die linke Türe und betrat den halbdunklen Wohnraum, der spärliche Möblierung aufwies. Eine braune Ledercouch, ein Sessel und ein kleiner Tisch sowie ein helles modernes Sideboard, auf dem ein Flachbildfernseher stand. Keine Gardinen oder Vorhänge an den Fenstern. Normale Unordnung, die zeigte, dass hier jemand lebte oder gelebt hatte. Aus dem Raum heraus ging sie in eine Küche. Das schmutzige Geschirr zeugte von längerer Abwesenheit der Bewohner. Festgetrocknete unappetitliche Speisereste und stapelweise ungespültes Geschirr. Aufgeschlagene Betten im Schlafzimmer sowie ein dumpfer feuchter Geruch in der Luft. Lange nicht mehr gelüftet. Bewohnt und wieder nicht. Hier gab es zwar keine Reichtümer, doch arme Leute lebten hier nicht. Die wenige Kleidung und Wohngegenstände zeugten von einer soliden finanziellen Grundbasis.
Was mochte geschehen sein?
Claudia stand ratlos im Wohnraum und nahm die nicht vorhandene Atmosphäre auf. Von Maria wusste sie, dass Peter Abels seit drei Monaten nicht mehr zur Arbeit erschienen war. Keine Krankmeldung oder Abmeldung … nichts. Sie schaute aus dem Fenster in einen kleinen Garten. Am Ende stand ein Holzhaus, mehr ein Geräteschuppen.
»Da schauen wir mal eben rein«, sagte sie zu Heinz, während das Unheil in ihrer Magengegend aufzog.
Er nickte zustimmend. Zwei in Kniehöhe gespannte Drähte markierten die Grundstücksgrenze zu den Nachbarn. Die Türe des Schuppens klemmte. Heinz zog mit aller Kraft daran und flog unversehens auf den Hosenboden, als sie nachgab. Zwischen den Gartengeräten und über einer kleinen Werkbank lag ein Mann. Tot. Heinz sah es sofort. Die Lage der Glieder und der süßliche Geruch ließen keinen anderen Schluss zu. Er winkte Claudia heran.
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